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schränktes Recht auf alles, was seinem Interesse,
seinem Vorteile dienen kann. Da alle einander
gleich sind, so ist jeder berechtigt, sein persönliches
Interesse in jeder Beziehung und ohne alle Rück-
sicht zu wahren und zu verfolgen, und zwar gegen
jedermann, mag dieser dadurch auch noch so sehr ge-
chädigt werden. Kurz, im Naturstande reicht das
Recht des einzelnen so weit als seine Macht.
Es gilt bloß das Recht des Stärkeren; der Unter-
schied zwischen Recht und Unrecht existiert hier
nicht. — Dazu kommt, daß ein jeder im Natur-
stande von Natur aus auch geneigt ist, rücksichts-
los gegen alle sein unbeschränktes Recht auszuüben,
weil jeder nur sich selbst liebt, und wenn er einem
andern einen Liebesdienst erweist, so tut er dies
nur um des eigenen Vorteils willen. An sich steht
von Natur aus der eine dem andern feindlich
gegenüber. Der Naturstand ist also der Krieg
aller gegen alle. Dieser Krieg aller gegen
alle selbst ist jedoch wiederum dazu angetan, jedem
einzelnen die Wahrung und Förderung seiner
Interessen, ja selbst seine eigene Erhaltung auf
die Dauer unmöglich zu machen. Denn wenn
alles nur darauf ankommt, wer der Stärkere ist,
so wird immer der Stärkere den Schwächeren
unterdrücken, ja töten, bis ihn selbst wiederum
durch einen noch Stärkeren das gleiche Schicksal
trifft. Daraus folgt, daß die Menschen zum
Zwecke der Selbsterhaltung und der Förderung
ihrer Interessen darauf angewiesen sind, aus dem
Naturstande herauszutreten und den Frieden zu
suchen, soweit dieser erreichbar ist; soweitsolchesuaber
nicht möglich ist, die notwendigen Mittel zur Ab-
wehr gegen die Angriffe anderer sich zu verschaffen.
Das ist das erste Naturgesetz.
Um jedoch zum Frieden zu gelangen, gibt es
kein anderes Mittel, als daß die einzelnen ihr
unbeschränktes Recht aufgeben, was jedoch nur ge-
schehen kann durch eine Vereinigung der Menschen
miteinander, in welcher jeder den andern vertrags-
mäßig verspricht, daß er sein unbeschränktes Recht
nicht mehr anwenden wolle. Und dies ist der Ur-
sprung der Gesellschaft. Die Gesellschaft beruht also
auf einem Vertrag, d. i. das wechselseitige Ver-
sprechen, unter sich friedlich zu leben, so daß jeder,
der den Vertrag brechen und den andern angreifen
sollte, durch gemeinsames Zusammenstehen aller
niedergeschlagen werde, damit die Störung des
Friedens abgewendet werde. — Zudem müssen
behufs der Erhaltung des Friedens und zur ge-
meinsamen Verteidigung alle nur einen Willen
haben, was nur dadurch möglich wird, daß jeder-
mann seinen Willen dem Willen eines einzigen,
sei er nun eine physische oder eine moralische Per-
son (coetus), so unterwirft, daß alles, was dieser
zum Zwecke der Erhaltung des Friedens und zur
gemeinsamen Verteidigung will, als der Wille
aller, aller einzelnen zu gelten hat. Somit müssen
auf Grund der gesellschaftlichen Vereinigung alle
miteinander übereinkommen, dem Willen eines
einzelnen Menschen oder eines Kollegiums nicht
Hobbes.
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zu widerstehen und ihr Vermögen und ihre Kräfte
gegen jedweden, gegen den sie angewendet werden
sollen, ihm nicht zu verweigern. Dadurch über-
trägt jeder das Recht auf seine Kräfte und seine
Hilfsmittel auf das Haupt der Vereinigung, und
so besitzt dieses eine derartige Macht, daß es durch
die Furcht aller die Wahrung der Eintracht und
des Friedens erzwingen kann.
Die in solcher Weise konstituierte Vereinigung
heißt Stéat (eivitas) oder staatliche Gesellschaft
(societas civilis). Die Begriffe von Staat und
Gesellschaft fallen also in eins zusammen. Erst
nachdem der Staat konstituiert ist, kann von Recht
und Pflicht, überhaupt von sittlichen und recht-
lichen Verhältnissen der Menschen zueinander die
Rede sein. Der Staat ist somit die Quelle alles
Rechts, aller Sitte, alles Eigentums usw.; ohne
den Staat ist nichts von alledem möglich.
Man sieht, daß nach dieser Theorie die höchste
Gewalt im Staate keineswegs höheren Ursprunges
ist, sondern ausschließlich nur aus dem Volke
hervorgeht, insofern dieses durch gemeinsame Über-
einkunft das Staatsoberhaupt aufstellt und ihm
die Vertretung seines einheitlichen Willens über-
trägt. Der eigentliche Souverän ist und bleibt
aber immer das Volk, nur daß es seine Herr-
schaft durch den Willen dessen ausübt, den es mit
der höchsten Gewalt betraut hat. Aber eben weil
das Volk durch das Staatsoberhaupt regiert und
nur durch dieses regieren kann, da dieses der
Träger des einheitlichen Willens des Volkes ist,
darum bleibt dem Volke gegenüber dem Staats-
oberhaupte gar kein Recht mehr. In dem Augen-
blicke, wo es die Gewalt an das Staatsoberhaupt
überträgt, hört es auf, Volk zu sein, und wird
zu einer bloßen Menschenmenge, die auf kein
eigenes Recht mehr Anspruch machen kann. —
Die Gewalt des Staatsoberhauptes ist also in
jedem Staate eine völlig unbeschränkte, absolute;
sie ist von solcher Intensität und Ausdehnung,
daß eine größere nicht denkbar ist. Dem Staats-
oberhaupte als individueller Verkörperung der
gesamten „Staatspersönlichkeit“ soll „des Volkes
Wohlfahrt höchstes Gesetz“ sein, aber es hat im
einzelnen gar keine Verpflichtung gegen das Volk;
es kann alles tun, was es nur immer will, und
alles, was es tut, ist recht bloß deshalb, weil es von
ihm getan wird. Sein Wille ist für alle Staatsgesetze
allein maßgebend. Es kann niemand unrecht tun;
es kann daher auch nicht vom Volke wegen schlechter
Regierung zur Rechenschaft gezogen werden; es
ist unabsetzbar. Kurz, die Gewalt des Staats-
oberhauptes ist die des einzelnen im Natur-
stande. — Dieser absoluten Gewalt des Staats-
oberhauptes entspricht auf seiten der Untertanen
ein ebenso unbedingter Gehorsam in
allem, was es nur immer befehlen und anordnen
mag. Die bürgerliche Freiheit reicht nur so weit,
als das Staatsoberhaupt sie durch seine Gesetze
nicht aufhebt. Die Verpflichtung zum Gehorsam
geht so weit, daß die Bürger sogar in dem ge-