Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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sätzen, wenn sie einmal zufällig zur Herrschaft ge- 
langen, das Wort reden. Ist jedes Regiment, 
das einmal tatsächlich die Gewalt in Händen hat, 
nicht nur von Gott zugelassen (denn das ist un- 
zweifelhaft), sondern hat es sich des besondern 
Schutzes der Bibel zu erfreuen, dann fällt unter 
diese Schutzberechtigung und gleichmäßige mora- 
lische Anerkennungspflicht der Untertanen auch die 
Schreckensherrschaft eines Konvents und eines Un- 
geheuers wie Robespierre. 
Es lassen sich aus der Geschichte zahlreiche Bei- 
spiele aufzählen, in welchen von Mächten, die mit 
Recht als hochkonservativ gelten, Aufforderungen 
zu Handlungen stattgefunden haben, welche sich 
der Form nach als hochverräterisch darstellen, wenn 
sie auch moralisch gerechtfertigt waren. Als Oster= 
reich im Jahre 1809 die Bewohner Italiens und 
des Rheinbundes aufforderte, gegen denjenigen 
aufzustehen, der sich als den Zerstörer der Staats- 
und Rechtsordnung von ganz Europa erwiesen 
hatte, war dieser Zerstörer der Rechtsordnung 
Napoleon, anerkannter König von Italien und 
Protektor des Rheinbundes. Der Aufstand gegen 
ihn war daher für die Bewohner des damaligen 
Königreichs Italien und des Rheinbundes ein 
Hochverrat, und doch wird niemand diese Mani- 
feste auch nur dem leisesten Tadel unterziehen. 
Der Aufstand der Tiroler gegen die unterdrücken- 
den Bayern und Franzosen war den edelsten Ge- 
fühlen der Religion und des wahren Patriotis= 
mus entsprungen und bildet für den strengsten 
Moralisten nur eine wirklich erhabene Erscheinung. 
Andreas Hofer starb als Märtyrer und nicht als 
Aufwiegler. Genau so muß der Aufstand der 
Spanier von 1807 beurteilt werden. Auch die im 
Jahre 1813 in Kalisch versammelten Fürsten und 
Politiker erließen die historisch gewordene Pro- 
klamation von Kalisch, in welcher sie die von Na- 
poleon unterdrückten Volksstämme zur Teilnahme 
an den Bestrebungen zu ihrer Befreiung auffor- 
derten, ohne daß darin die strengste Kritik Im- 
moralität erblicken könnte. Dieses Vorgehen euro- 
päischer Fürsten und Mächte, denen man eine Be- 
günstigung des Hochverrats und der Nevolution 
unmöglich zutrauen kann, beweist, um mit Rotteck, 
mit dem wir sonst selten übereinstimmen, zu reden, 
das in gewissen Fällen den Völkern zustehende 
Selbsturteil über die Rechtmäßigkeit eines über 
sie gekommenen Zustandes und auch das Recht 
der Auflehnung gegen unrechtmäßige Gewalt. 
Anderseits gibt es Fälle, in welchen die Auf- 
sorderung zum Widerstand gegen die rechtmäßige 
Staatsgewalt zwar von legitimen Fürsten, aber 
in sehr ungerechtfertigter Weise erfolgt ist. Unter 
dem Drucke ungerechter Parteiregierungen hat es 
sich schon oft ereignet, daß Handlungen, selbst 
Gesinnungen für hochverräterisch erklärt worden 
sind, welche mit diesem Begriff nicht das geringste 
gemein haben. Man erinnere sich in dieser Be- 
ziehung an die Geschichte Englands unter Hein- 
rich VIII., Elisabeth und den Stuarts, unter 
Hochverrat. 
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deren Regierung der Nichtübertritt zum Pro- 
testantismus, die Nichtanerkennung des könig- 
lichen sog. Supremats in rein geistlichen Ange- 
legenheiten oder gar der Empfang der Priester- 
weihe mit den schwersten Strafen bedroht und 
häufig genug mit einem martervollen Tode be- 
straft wurden. Auf Grund solcher „Hochverrats- 
gesetze“ wurde das irische Volk geknechtet, und die 
französische Revolution von 1789 zog ebenfalls 
mit Hochverratsprozessen gegen sog. aristokratische 
und kirchliche Gesinnung zu Felde. 
Indem wir die theoretische Möglichkeit auf- 
stellten und sie mit einigen praktischen Beispielen 
belegten, daß nicht eine jede Auflehnung gegen 
eine tatsächlich bestehende öffentliche Gewalt und 
jede Zuwiderhandlung gegen sog. Hochverrats- 
gesetze unter allen Umständen und ausnahmslos 
als Hochverrat moralisch gebrandmarkt werden 
dürften, sind wir weit entfernt, ein sog. Recht der 
Revolution oder ein sog. unbeschränktes Selbst- 
bestimmungsrecht der Völker, wie man es heutzu- 
tage zu nennen beliebt, anzuerkennen. Die von 
uns angeführten Beispiele betrafen Fälle, in wel- 
chen die allgemein gültigen Gesetze der Moral die 
Berechtigung zum Widerstand klarstellten. 
Dagegen ist es ein durch nichts zu rechtferti- 
gendes, jedenfalls strafbares Beginnen, der gesetz- 
mäßigen Gewalt unter andern Umständen gewalt- 
samen Widerstand zu leisten. Nicht nur daß es 
als eines der schwersten Verbrechen erscheint, wenn 
man zur Befriedigung seiner Privatinteressen oder 
des persönlichen Ehrgeizes ein Land, dessen Re- 
gierung die Rechte der Staatsbürger im allge- 
meinen achtet (oder sich wenigstens der schwersten 
Bedrückungen auf denjenigen Gebieten, auf welchen 
der Staat nichts zu suchen hat und deren Ord- 
nung dem freien und vernünftigen Ermessen des 
Mernschen anheimgegeben ist, z. B. auf dem reli- 
giösen, enthält), in die Greuel eines Bürgerkrieges 
stürzt, auch die sog. Unerträglichkeit eines poli- 
tischen Zustandes, welche auf dem noch so ernst 
gemeinten subjektiven Ermessen des einzelnen oder 
# selbst des größten Teiles der Nation beruht, kann 
an diesem Satz nichts ändern. Wir verabscheuen 
also alle Revolutionen, die (von den wenigen oben 
angeführten und vielleicht noch einigen andern 
Ausnahmefällen abgesehen) regelmäßig nur den 
Zweck haben, den eigenen Willen an Stelle des 
Willens der Regierenden zu setzen. Wir verab- 
scheuen demzufolge den Aufstand der protestan- 
tischen Schotten gegen ihre dem alten Glauben 
treu gebliebene Königin Maria Stuart, der ledig- 
lich dem Fanatismus einiger Prediger und dem 
schamlosen Eigennutze der Mehrheit des schotti- 
schen Adels seine Entstehung verdankte. Wir ver- 
abscheuen die zahlreichen Revolutionen der Eng- 
länder, namentlich die, welche zur Gefangen- 
nehmung und Enthauptung Karls I. führte, trotz 
der schlechten Regierung dieses Fürsten. Wir miß- 
billigen entschieden die abermalige Auflehnung des 
englischen Volkes gegen Jakob II., der trotz einiger 
  
 
	        
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