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Westindien sind Glieder eines nationalen Ganzen,
welches durch gemeinsame Sprache und Abstam-
mung, gemeinsame Geschichte, Religion, Literatur
und politische Institutionen zusammengehalten
wird. Daneben treten die wirtschaftlichen Er-
wägungen: der beste Markt des Mutterlandes ist
das von Engländern besiedelte Kolonialgebiet.
Die Wahrnehmung dieser Interessen erfordert
große militärische Machtmittel. Und am Aus-
gang des 19. Jahrh. hat das britische Reich seine
Ländergier bewiesen: Birma, Belutschistan, Agyp-
ten, der Sudan, Uganda, Rhodesia, die südafri-
kanischen Republiken wurden verschlungen. — Um
vor allem seine Seeherrschaft zu behaupten, hat
England seine „Norm der zwei Mächte“ („Zwei-
Mächte-Standard“) aufgestellt, nach welcher die
britische Flotte mindestens so stark sein müsse als
die Flotten der beiden nächstfolgenden Seemächte
zusammengenommen; und diese britische Seemacht
will der Imperialismus durch Beiziehung der
Kolonien auf breitere Grundlage stellen. Vor
allem malt man diesen die von Deutschland dro-
hende Gefahr vor. — Man lernt allmählich in Eng-
land erkennen, daß das wirtschaftliche und soziale
Element nicht genügt, um das Gesamtreich zu-
sammenzuhalten; es muß die rechtliche Organi-
sation hinzutreten, denn ohne rechtliche Organi-
sation kann nichts Dauerhaftes an Staatsgebilden
geschaffen werden. Aus allen Kämpfen für und
wider die Pläne eines festen Fundamentes sind
bisher drei Projekte zugunsten der rechtlichen Or-
ganisation hervorgegangen: 1) das Projekt des
imperialen Bundesstaates; 2) das eines imperialen
Zollvereins und 3) das eines Reichskriegsverbandes.
Das Projekt des imperialen Bundesstaates will
ein gemeinsames Reichsparlament, dem alle Einzel-
parlamente untergeordnet wären. Dieses Reichs-
parlament hätte die auswärtige Politik, Heer-
und Flottenwesen, die Handelspolitik und das
Verkehrswesen zu beherrschen. Indes scheiterten
bis jetzt alle dahingehenden Versuche. Seit einigen
Jahren aber tagen die Premierminister der Ko-
lonien unter dem Vorsitz des Kolonialsekretärs in
unregelmäßigen Zwischenräumen. Die Imperia-
listen sehen hierin den „Keim eines künftigen
Bundesrates“ des britischen Bundesstaates. Ein
bedeutsames Machtelement des Imperialismus
liegt darin, daß der heutige Engländer an die
Kulturmission der englischen Nation glaubt, daß
er glaubt, durch seine Herrschaft auch den Be-
herrschten und damit der Menschheit zu dienen.
So gilt Lord Cromer, der Reorganisator Agyp-
tens, als glänzender Vertreter des kolonisatorischen
Genius der britischen Rasse in neuerer Zeit.
Der neubritische Imperialismus stellte sich vor
allem in Gegensatz zu Deutschland und Rußland.
Der britisch-deutsche Gegensatz ist überwiegend
wirtschaftlicher Natur, während der britisch-rus-
sische politisch-geographisch ist. Die Festsetzung
Rußlands in Persien, Afghanistan, Tibet und
Siam bedeutet für den englischen Imperialisten
Imperialismus.
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eine unerträgliche Bedrohung seines indischen
Reiches. Um dieser Bedrohung wirksam begeg-
nen zu können, fordern viele Imperialisten eine
Landarmee nach deutschem Muster. Als die wirt-
chaftliche Grundlage des imperialistischen Auf-
chwungs im britischen Reiche betrachtet v. Schulze-
Gävernitz (Britischer Imperialismus u. englischer
Freihandel) die Tatsache, daß England aus dem
Industriestaate allmählich in den Gläubigerstaat
hineinwächst, veranlaßt durch den Aufschwung
der Minenindustrie Afrikas. Diese ist aufs
engste geknüpft an den Namen Cecil Rhodes
(1853/1902), den Typus des neubritischen Im-
perialisten. Der Leitstern in Rhodes' Leben war
der Imperialismus. Klein-England war ihm hoff-
nungslos, das „größere Britannien“ da-
gegen gleichbedeutend mit der Zukunft der Mensch-
heit. Sein Imperialismus war expansiv. Sein
Ziel war: Ein Südafrika bis zum Tanganika,
aber als Glied des britischen Reiches. Die Ge-
winnung des nach ihm benannten Gebietes Rhode-
sia ist sein Werk. Die wirtschaftliche Erschließung
durch Bahnen ist in letzter Zeit rasch vorwärts-
geschritten. Die Bahn vom Kap zum Nil ist ein
Triumph des britischen Imperialismus.
Seit J. Chamberlain zum Kolonialminister
ernannt wurde (1895), wurden nunmehr Handels-
verträge mit den Kolonien unter gegenseitiger Ge-
währung von Vorzugszöllen abgeschlossen. Und
der innerste Beweggrund dieser „Finanzreform“
ist nicht wirtschaftlicher, sondern politischer Natur.
Die ständige Mahnung Chamberlains an seine
Landsleute ist die, „imperialistisch“ d. h. politisch
zu denken. Sogar ausgesprochene Freihändler er-
klären aus nationalpolitischen Gründen Abwei-
chung vom Freihandel für notwendig. Der Im-
perialist sieht voraus, daß sich der Schwerpunkt
des britischen Reiches immer mehr nach den Kolo-
nien verschiebe. Darum müsse schon jetzt der
weitsichtige Patriot die kolonialen Interessen als
die wichtigeren fordern. Ziel ist die Weltherr-=
schaft der angelsächsischen Rasse und Kultur durch
Besiedlung der nur politisch in Besitz genom-
menen Flächen, wie Kanada, Australien und Süd-
afrika. Hierzu kommt die politische Organisation
des Weltreiches. Aber Chamberlain sah richtig
die Gefahren, die der politischen Organisation des
Weltreiches drohen durch die Loslösungstendenzen
in den Kolonien, und so erklärte er wiederholt,
daß entweder das bestehende Band zwischen
Mutterland und Kolonien verstärkt werden müsse
oder gänzlich dahinschwinde. Die Freihandels-
politik müsse zur Auflösung führen, also müsse
das Interesse der Kolonien am Markte des
Mutterlandes das Bindemittel werden. Deshalb
wollen die Imperialisten einmal die weiße Be-
völkerung des britischen Reiches vermehren und
die Kolonien wirtschaftlich-politisch stärken; diese
sollen durch handelspolitische Begünstigung ge-
wonnen werden, für Zwecke der Seemacht das
Mutterland finanziell zu unterstützen. Vor allem
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