Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1373 
es vorbehalten, den Ehrennamen eines „Vaters 
der innern Mission“ zu erwerben, indem es ihm 
gelang, „die den verschiedenen Zwecken der innern 
Mission dienenden Vereine in eine organische Ver- 
bindung zu bringen“, „zu einem lebendigen Ganzen 
zu gestalten“, so daß daraus „eine Zeitströmung“ 
werde, die zu „einem wirksamen Sauerteig im 
Volke“ sich auswachsen soll. 
Johann Hinrich Wichern wurde geboren am 
21. April 1808 in Hamburg, hatte frühzeitig den 
Verlust seines Vaters zu beklagen und mußte in 
jungen Jahren bereits durch Erteilung von Privat- 
unterricht zum Unterhalt der Familie beitragen. 
Seine Ausbildung fand er zuerst in einer Privat- 
schule, dann durch den Besuch des akademischen 
Gymnasiums, worauf Freunde der Familie die 
Mittel zum höheren Studium beschafften, nach- 
dem der junge Mann sich zum Studium der evan- 
gelischen Theologie entschlossen hatte. Während 
der Studienzeit an den Universitäten Göttingen 
und Berlin waren es besonders Lücke, Neander, 
Dr Julius und Schleiermacher sowie das Studium 
des Franckeschen Waisenhauses in Halle, die Armen- 
beschäftigungsanstalt des Frhr von Kottwitz in 
Berlin und die Kopffsche Erziehungsanstalt, eben- 
falls in Berlin, welche Einfluß auf die Entwick- 
lung des Studenten ausübten. Schon in den Uni- 
versitätsjahren, mehr noch in den folgenden Jahren 
als Kandidat und „Oberhelfer“ an der ersten 
deutschen, 1825 durch Oncken und Rautenberg ge- 
gründeten Sonntagsschule in Hamburg-St Georg, 
durch seine Arbeit in dem nach Neuyorker Mustern 
eingerichteten „Besuchsverein“ bekam Wichern 
einen tiefen Einblick in das geistige, sittliche und 
materielle Elend des Volkes und besonders in die 
sittliche Verwilderung der Jugend. So entschloß 
er sich zur Gründung eines Rettungshauses für 
verwahrloste Knaben, zu welchem Zwecke ihm Syn- 
dikus Sieveking eine kleine, im Rauhwerk (Busch) 
gelegene Kate in Horn zur Verfügung stellte, welche 
Wichern im Jahre 1833 mit seiner Mutter und 
anfänglich 3, später 12 Knaben bezog. Es ist dies 
die Grundlage der heutigen großen Erziehungs- 
anstalten des „Rauen Hauses“ bei Hamburg, welche 
den Umfang eines Stadtteiles haben. Dieselben 
sind nach den Grundsätzen des sog. Familien- 
systems gegründet, welches je 10—16 Knaben 
unter einem Erzieher und einem Helfer zu einer 
Hausgenossenschaft vereinigt und das Prinzip ver- 
tritt: stetige, sorgfältige Uberwachung und indi- 
viduelle Pflege des einzelnen Zöglings im Geiste 
christlicher Zucht. Die Anstalten umfassen gegen- 
wärtig eine Realschule unter dem Namen „Pen- 
sionat Paulinum“, eine Volksschule unter dem 
Namen „Kinderanstalt“, eine Landwirtschaftsschule 
mit der Bezeichnung „Okonomieabteilung“, eine 
Handwerksschule, genannt „Lehrlingsanstalt“. Wi- 
chern widmete sich mit ganzer Seele den Kindern, 
welche zum Teil außerordentlich verkommen waren; 
er unterrichtete sie, arbeitete, sang, spielte und betete 
mit ihnen. Besonders aber infolge der Durch- 
Innere Mission. 
  
1374 
führung des Familienprinzips, und weil die Zahl 
der Zöglinge stetig zunahm, ergab sich bald das 
Bedürfnis nach Hilfe, und so kam es zur Einrich- 
tung der sog. „Brüderschaft“, der Heranziehung 
und Heranbildung opferwilliger Personen, welche, 
in Demut und Selbstverleugnung, Pünktlichkeit 
und Treue geschult, zuerst sich nur dem Erziehungs- 
werk widmeten und darauf regsame Tätigkeit ent- 
falten lernten auf den verschiedensten Gebieten der 
christlichen Liebeswerke. Die Gründung der ersten 
Brüderanstalt fällt in das Jahr 1834. 
Wicherns klarer Blick und hilfsbereites Herz 
gaben den Fingerzeig, daß nicht allein das Er- 
ziehungswerk vielfach im argen liege, sondern in 
weiteren Kreisen auch noch vieles andere zur „Ret- 
tung des evangelischen Volkes aus seiner geistlichen 
und leiblichen Not durch die Verkündigung des 
Evangeliums und die brüderliche Handreichung der 
christlichen Liebe“ zu geschehen habe. In einer 
zweifachen Richtung, glaubte er, müsse die Tätig- 
keit zur Abstellung der Mißstände sich entfalten, 
nach einer „diakonischen“ und einer „evangelisato- 
rischen“ Richtung. Im Jahre 1844 veröffentlichte 
Wichern eine Schrift über die Notstände der evan- 
gelischen Kirche und gründete eine neue Zeitschrift 
unter dem Titel „Fliegende Blätter aus dem Rauhen 
Hause“, welche gegenwärtig unter dem Titel „Die 
innere Mission im evangelischen Deutschland“ noch 
besteht. Auf dem ersten deutschen evangelischen 
Kirchentage in Wittenberg 1849 regte Wichern dann 
den Gedanken der Schaffung eines Mittelpunktes 
für die sämtlichen Arbeiten der christlichen Liebes- 
tätigkeit in einem „Zentralausschuß für die innere 
Mission der deutschen evangelischen Kirche“ an. Die 
Gründung des Zentralausschusses erfolgte 1849 
nach Überwindung mancher Schwierigkeiten. Das 
Programm für die Tätigkeit dieser Zentralstelle 
ist genauer dargelegt in der berühmt gewordenen 
„Denkschrift an die deutsche Nation“ vom April 
1849 
Wichern blieb lange Jahre hindurch die Seele 
des Zentralausschusses und hatte auf den Kon- 
gressen für innere Mission, die bis 1872 mit den 
evangelischen Kirchentagen verbunden blieben, eine 
führende Rolle. Sein Wahlspruch lautete: „Unser 
Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden 
hat.“ Vom Jahre 1850 ab ließ er sich, um mög- 
lichst viel Zeit für die Tätigkeit in weiteren Kreisen 
zu erübrigen, in seiner Stellung als Direktor des 
Rauhen Hauses durch Inspektor Rhiem vertreten. 
Im Jahre 1857 faßte König Friedrich Wil- 
helm IV., der Wichern außerordentlich hoch schätzte, 
den Entschluß, die Wirksamkeit des hervorragenden 
Organisators durch Verbindung mit einer staat- 
lichen Stellung noch größer zu gestalten, berief 
daher Wichern in den preußischen Oberkirchenrat 
und ernannte ihn zugleich zum vortragenden Rat 
mit dem Dezernat für Gefängnis= und Armen- 
wesen in dem Ministerium des Innern. Wichern 
nahm die Stelle an in der Hoffnung, nunmehr 
eine Gefängnisreform durchsetzen zu können, und
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.