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es vorbehalten, den Ehrennamen eines „Vaters
der innern Mission“ zu erwerben, indem es ihm
gelang, „die den verschiedenen Zwecken der innern
Mission dienenden Vereine in eine organische Ver-
bindung zu bringen“, „zu einem lebendigen Ganzen
zu gestalten“, so daß daraus „eine Zeitströmung“
werde, die zu „einem wirksamen Sauerteig im
Volke“ sich auswachsen soll.
Johann Hinrich Wichern wurde geboren am
21. April 1808 in Hamburg, hatte frühzeitig den
Verlust seines Vaters zu beklagen und mußte in
jungen Jahren bereits durch Erteilung von Privat-
unterricht zum Unterhalt der Familie beitragen.
Seine Ausbildung fand er zuerst in einer Privat-
schule, dann durch den Besuch des akademischen
Gymnasiums, worauf Freunde der Familie die
Mittel zum höheren Studium beschafften, nach-
dem der junge Mann sich zum Studium der evan-
gelischen Theologie entschlossen hatte. Während
der Studienzeit an den Universitäten Göttingen
und Berlin waren es besonders Lücke, Neander,
Dr Julius und Schleiermacher sowie das Studium
des Franckeschen Waisenhauses in Halle, die Armen-
beschäftigungsanstalt des Frhr von Kottwitz in
Berlin und die Kopffsche Erziehungsanstalt, eben-
falls in Berlin, welche Einfluß auf die Entwick-
lung des Studenten ausübten. Schon in den Uni-
versitätsjahren, mehr noch in den folgenden Jahren
als Kandidat und „Oberhelfer“ an der ersten
deutschen, 1825 durch Oncken und Rautenberg ge-
gründeten Sonntagsschule in Hamburg-St Georg,
durch seine Arbeit in dem nach Neuyorker Mustern
eingerichteten „Besuchsverein“ bekam Wichern
einen tiefen Einblick in das geistige, sittliche und
materielle Elend des Volkes und besonders in die
sittliche Verwilderung der Jugend. So entschloß
er sich zur Gründung eines Rettungshauses für
verwahrloste Knaben, zu welchem Zwecke ihm Syn-
dikus Sieveking eine kleine, im Rauhwerk (Busch)
gelegene Kate in Horn zur Verfügung stellte, welche
Wichern im Jahre 1833 mit seiner Mutter und
anfänglich 3, später 12 Knaben bezog. Es ist dies
die Grundlage der heutigen großen Erziehungs-
anstalten des „Rauen Hauses“ bei Hamburg, welche
den Umfang eines Stadtteiles haben. Dieselben
sind nach den Grundsätzen des sog. Familien-
systems gegründet, welches je 10—16 Knaben
unter einem Erzieher und einem Helfer zu einer
Hausgenossenschaft vereinigt und das Prinzip ver-
tritt: stetige, sorgfältige Uberwachung und indi-
viduelle Pflege des einzelnen Zöglings im Geiste
christlicher Zucht. Die Anstalten umfassen gegen-
wärtig eine Realschule unter dem Namen „Pen-
sionat Paulinum“, eine Volksschule unter dem
Namen „Kinderanstalt“, eine Landwirtschaftsschule
mit der Bezeichnung „Okonomieabteilung“, eine
Handwerksschule, genannt „Lehrlingsanstalt“. Wi-
chern widmete sich mit ganzer Seele den Kindern,
welche zum Teil außerordentlich verkommen waren;
er unterrichtete sie, arbeitete, sang, spielte und betete
mit ihnen. Besonders aber infolge der Durch-
Innere Mission.
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führung des Familienprinzips, und weil die Zahl
der Zöglinge stetig zunahm, ergab sich bald das
Bedürfnis nach Hilfe, und so kam es zur Einrich-
tung der sog. „Brüderschaft“, der Heranziehung
und Heranbildung opferwilliger Personen, welche,
in Demut und Selbstverleugnung, Pünktlichkeit
und Treue geschult, zuerst sich nur dem Erziehungs-
werk widmeten und darauf regsame Tätigkeit ent-
falten lernten auf den verschiedensten Gebieten der
christlichen Liebeswerke. Die Gründung der ersten
Brüderanstalt fällt in das Jahr 1834.
Wicherns klarer Blick und hilfsbereites Herz
gaben den Fingerzeig, daß nicht allein das Er-
ziehungswerk vielfach im argen liege, sondern in
weiteren Kreisen auch noch vieles andere zur „Ret-
tung des evangelischen Volkes aus seiner geistlichen
und leiblichen Not durch die Verkündigung des
Evangeliums und die brüderliche Handreichung der
christlichen Liebe“ zu geschehen habe. In einer
zweifachen Richtung, glaubte er, müsse die Tätig-
keit zur Abstellung der Mißstände sich entfalten,
nach einer „diakonischen“ und einer „evangelisato-
rischen“ Richtung. Im Jahre 1844 veröffentlichte
Wichern eine Schrift über die Notstände der evan-
gelischen Kirche und gründete eine neue Zeitschrift
unter dem Titel „Fliegende Blätter aus dem Rauhen
Hause“, welche gegenwärtig unter dem Titel „Die
innere Mission im evangelischen Deutschland“ noch
besteht. Auf dem ersten deutschen evangelischen
Kirchentage in Wittenberg 1849 regte Wichern dann
den Gedanken der Schaffung eines Mittelpunktes
für die sämtlichen Arbeiten der christlichen Liebes-
tätigkeit in einem „Zentralausschuß für die innere
Mission der deutschen evangelischen Kirche“ an. Die
Gründung des Zentralausschusses erfolgte 1849
nach Überwindung mancher Schwierigkeiten. Das
Programm für die Tätigkeit dieser Zentralstelle
ist genauer dargelegt in der berühmt gewordenen
„Denkschrift an die deutsche Nation“ vom April
1849
Wichern blieb lange Jahre hindurch die Seele
des Zentralausschusses und hatte auf den Kon-
gressen für innere Mission, die bis 1872 mit den
evangelischen Kirchentagen verbunden blieben, eine
führende Rolle. Sein Wahlspruch lautete: „Unser
Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden
hat.“ Vom Jahre 1850 ab ließ er sich, um mög-
lichst viel Zeit für die Tätigkeit in weiteren Kreisen
zu erübrigen, in seiner Stellung als Direktor des
Rauhen Hauses durch Inspektor Rhiem vertreten.
Im Jahre 1857 faßte König Friedrich Wil-
helm IV., der Wichern außerordentlich hoch schätzte,
den Entschluß, die Wirksamkeit des hervorragenden
Organisators durch Verbindung mit einer staat-
lichen Stellung noch größer zu gestalten, berief
daher Wichern in den preußischen Oberkirchenrat
und ernannte ihn zugleich zum vortragenden Rat
mit dem Dezernat für Gefängnis= und Armen-
wesen in dem Ministerium des Innern. Wichern
nahm die Stelle an in der Hoffnung, nunmehr
eine Gefängnisreform durchsetzen zu können, und