Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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europäischen und amerikanischen Parlamente ge- 
bildete Interparlamentarische Union für Schieds- 
gerichte stellten diese Forderung auf. Von man- 
chen Seiten wurde das Schiedsgericht geradezu 
als die Panacee zur Erhaltung des Weltfriedens 
und zur Beseitigung des den Wohlstand aller 
Nationen erdrückenden Systems des bewaffneten 
Friedens, als das Mittel, zur allgemeinen Abrü- 
stung zu gelangen, gepriesen. 
III. Erste Konferenz im Haag 1899. In 
eine nüchternere, aber praktischere Richtung wurde 
die Frage des Schiedsgerichtes durch die von Zar 
Nikolaus II. angeregte Erste Friedenskonferenz im 
Haag 1899 gelenkt, auf der alle einigermaßen 
erheblichen Staaten Europas, die Vereinigten 
Staaten von Amerika, Mexiko, Japan, China, 
Siam und Persien, nicht aber — wegen des 
Widerspruches Italiens — der Papst vertreten 
waren. Durch den am 29. Juli 1899 geschlos- 
senen und seither von allen Teilnehmern ratifi- 
zierten Vertrag über die friedliche Erledigung inter- 
nationaler Streitigkeiten haben die auf der Konferenz 
vertretenen 26 Staaten (denen sich am 14. Juni 
1907, dem Tage vor Eröffnung der Zweiten 
Konferenz, noch jene 18 amerikanischen Staaten 
anschlossen, die zur Ersten Konferenz nicht geladen 
waren) anerkannt, daß die Schiedssprechung in 
Fragen juristischer Art und in erster Reihe in jenen 
der Auslegung oder Anwendung internationaler 
Vereinbarungen das wirksamste und gleichzeitig 
das der Billigkeit am besten entsprechende Mittel 
ist, um Streitigkeiten zu erledigen, die auf diplo- 
matischem Wege nicht geschlichtet worden sind 
(Art. 16,jetzt 38, von 1907). Die amtliche deutsche 
lbersetzung im R.G.Bl. 1901, Nr 44 ist insofern 
ungenau, als sie von Streitigkeiten spricht, „die 
auf diplomatischem Wege nicht haben beseitigt 
werden können“. Ein weitergehender Antrag, den 
Martens im Namen Rußlands gestellt hatte, ging 
dahin, daß die Staaten sich verpflichten sollten, 
alle Streitfragen juristischen Charakters unter ge- 
wissen Voraussetzungen und mit gewissen Ein- 
schränkungen sowie außerdem Streitfragen von 
bestimmt umschriebener Art allgemein der Ent- 
scheidung durch Schiedsspruch zu unterwerfen. 
Dieser Antrag wurde jedoch infolge lebhaften 
Widerspruches des Deutschen Reiches nicht an- 
genommen. Art. 19 (jetzt Art. 40) beschränkte 
sich nur darauf, die wenigen schon damals be- 
  
Austragung völkerrechtlicher Differenzen (wie sie 
für die große Mehrheit der Staaten durch den 
Weltpostvertrag, die Berner Konvention über 
das Eisenbahnfrachtrecht und die Brüsseler Anti- 
sklavereiakte, für einzelne derselben außerdem durch 
Spezialverträge begründer wird) aufrecht zu er- 
halten und den Signatarmächten überdies aus- 
drücklich das Recht zu wahren, neue allgemeine 
oder besondere Verträge abzuschließen, durch welche 
sie sich verpflichten, gewisse Streitigkeiten, in be- 
treff deren sie dies für möglich hielten, der schieds- 
Internationale Schiedsgerichtsbarkeit. 
stehenden Verpflichtungen zu schiedsgerichtlicher 
  
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gerichtlichen Austragung zu unterwerfen. Soselbst- 
verständlich dieses Recht auch ist, so war dessen 
ausdrückliche Hervorhebung insofern nicht ohne 
Wert, als durch Art. 19 der Abschluß von Spe- 
zialverträgen über schiedsgerichtliche Austragung 
internationaler Differenzen, wie der belgische 
Jurist Descamps vorhergesehen hatte und der 
Erfolg zeigt, einen mächtigen Impuls erhielt. In 
den 8 Jahren bis zur Zweiten Friedenskonferenz 
wurden 40 Schiedsgerichtsverträge zwischen euro- 
päischen Mächten ratifiziert, an denen alle Groß- 
mächte (auch das Deutsche Reich und die öster- 
reichisch ungarische Monarchie) beteiligt sind; 
weitere 7 Verträge wurden zwar abgeschlossen, 
aber aus verfassungsrechtlichen Gründen von dem 
einen Kontrahenten, den Vereinigten Staaten 
von Amerika, nicht ratifiziert. Hierzu kommt eine 
Reihe von Schiedsgerichtsverträgen zwischen ameri- 
kanischen Staaten sowie eine Anzahl von Handels- 
verträgen (so auch die des Deutschen Reiches) und 
andere Konventionen, die eine Schiedsgerichts- 
klausel enthalten. Die Mehrzahl jener 40 Ver- 
träge verpflichtet die Kontrahenten, Streitigkeiten 
juristischer Art, insbesondere solche, welche die 
Auslegung oder Anwendung von Verträgen be- 
treffen, durch Schiedsgericht auszutragen, sofern 
sie auf diplomatischem Wege nicht gelöst worden 
sind und nicht die vitalen Interessen oder die Ehre 
eines der kontrahierenden Staaten (oder die Inter- 
essen eines dritten Staates) berühren. Die Ent- 
scheidung darüber, ob ein solcher Ausnahmefall 
vorliege, steht der betreffenden Partei selbst zu. 
Einzelne dieser Verträge nehmen jedoch gewisse 
Streitfragen aus der Reihe jener aus, hinsichtlich 
deren die Kontrahenten berechtigt sind, die er- 
wähnte Einwendung in betreff ihrer Ehre oder 
ihrer vitalen Interessen zu machen, so daß hinsicht- 
lich dieser Streitfragen eine unbedingte und 
ausnahmslose Verpflichtung zu ihrer schieds- 
gerichtlichen Austragung besteht (so die Verträge 
Schweden-Norwegens mit Rußland, Spanien 
und der Schweiz, Dänemarks mit Spanien und 
Rußland, Spaniens und Mexikos und der all- 
gemeine zentral= und südamerikanische Vertrag von 
1902). Noch weiter gehen der dänisch-niederlän- 
dische, der dänisch-italienische und der dänisch- 
portugiesische Vertrag von 1904, 1905 und 1907, 
die alle nicht auf diplomatischem Wege erledig- 
ten Streitigkeiten ohne jede Ausnahme und Ein- 
schränkung der Schiedsgerichtsbarkeit unterwerfen. 
„Um die unmittelbare Berufung der Schieds- 
sprechung zu erleichtern“, haben sich die Staaten 
in Art. 20 der Haager Konvention von 1899 
(ietzt Art. 41) verpflichtet, einen permanenten und 
jederzeit zugänglichen Schiedsgerichtshof mit dem 
Sitze im Haag zu schaffen. Durch dessen Bestand 
wird in der Tat sowohl für die Fälle obligato- 
rischer als fakultativer Unterwerfung einer Streit- 
sache unter das Schiedsgericht insofern eine be- 
deutende Erleichterung geschaffen, als die Schwie- 
rigkeit der Auswahl von Persönlichkeiten, die 
  
 
	        
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