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In dieser Beziehung konnte darauf hingewiesen
werden, daß eine große Anzahl gerade der mäch-
tigsten und wichtigsten unter den Signatarmächten
von 1899, aber auch andere, außerhalb des Kreises
derselben stehende Staaten in Einzelverträgen, die
sie mit dieser oder jener Macht abgeschlossen, diesen
Weg bereits betreten hätten. Wäre es also nicht
Mmröglich, an Stelle jenes Netzes von Einzelverträgen,
das, wenn es lückenlos sein soll, aus 46 X 45
— 2070 Konventionen bestehen müßte, einen all-
gemeinen „Weltschiedsgerichtsvertrag“ zu setzen,
der eine allgemeine Verpflichtung zur Unterwerfung
unter das Schiedsgericht, allerdings bloß in einem
sehr engen Rahmen, aufstellen würde, der aber den
Kern bilden könnte, an den sich weiter gehende
Verträge einzelner Staaten untereinander an-
schließen könnten? Diese Frage wurde von allen
Seiten ausgeworfen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika legten
auch sofort zu Beginn der Konferenz einen Antrag
vor, demzufolge die Staaten sich verpflichten sollten,
Differenzen juristischer Art, oder solche, die sich auf
die Auslegung von Staatsverträgen beziehen, dem
permanenten Schiedsgerichtshofe im Haag zu
unterbreiten, sofern sie im diplomatischen Wege
nicht geregelt werden konnten und nicht die vitalen
Interessen, die Unabhängigkeit oder die Ehre einer
der Parteien oder die Interessen dritter Staaten
berühren, wobei es jedoch ausdrücklich jeder der
Parteien vorbehalten bleiben sollte, selbst darüber
zu entscheiden, ob durch den Streitfall ihre vitalen
Interessen, ihre Unabhängigkeit oder ihre Ehre
berührt würden. Weiter gingen die Anträge Portu-
gals und Schwedens, die dieser allgemeinen, aber
bedingten Verpflichtung noch eine eingeschränkte,
aber unbedingte Verpflichtung zur schiedsgericht-
lichen Austragung gewisser Streitigkeiten an-
gliederten, während ein Antrag Serbiens nur
eine solche Liste von unbedingt durch Schiedsgericht
auszutragenden Fällen enthielt. Eine Variante des
amerikanischen Antrages bildete ein in mancher Rich-
tung weiter gehender, in anderer aber wiederum
eingeschränkterer Antrag Brasiliens. Allen diesen
Anträgen trat von Anfang an das Deutsche Reich
entgegen. Obwohl dessen erster Delegierter Frhr
v. Marschall sich nicht genug tun konnte in Wor-
ten, die die Anerkennung des Prinzipes obliga-
torischer schiedsgerichtlicher Austragung auch durch
das Deutsche Reich ausdrücken sollten, bekämpften
er und der zweite Delegierte Geheimrat Dr Kriege
in scharfsinnigen und zum Teil subtilen Ausfüh-
rungen jeden konkreten Vorschlag, der in dieser
Richtung gemacht wurde. Gegen die allgemeine
amerikanische Formel wurde von deutscher Seite
eingewendet, daß sie infolge der weitgefaßten Aus-
nahmen nutzlos und nur ein Scheinwerk sei. Dem
ist entgegenzuhalten, daß die Aufstellung des Prin-
zipes in dieser Gestalt nicht bloß von moralischer
Bedeutung ist, worauf auch der erste Delegierte der
österreichisch-ungarischen Monarchie v. Merey
hinwies, sondern auch juristisch eine große Trag-
Internationale Schiedsgerichtsbarkeit.
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weite besitzt. Denn insoweit, als eine wenn auch
noch so verklausulierte und bedingte Verpflichtung
zur Unterwerfung unter das Schiedsgericht auf-
gestellt wird, in so weit wird die schiedsgerichtliche
Austragung dieser Fälle nach fruchtloser Beschrei-
tung des diplomatischen Weges als die normale
Art ihrer Erledigung anerkannt. Will nun ein
Staat in einem solchen Falle sich auf ein von der
andern Seite ihm vorgeschlagenes Schiedsgericht
nicht einlassen, so muß er diese Ablehnung durch
den Hinweis auf seine vitalen Interessen oder auf
die nationale Ehre begründen. Freilich braucht er
diese Begründung nicht weiter auszuführen und zu
entwickeln, sondern es genügt, daß er überhaupt
diesen Einwand vorbringt. Aber diesen Einwand
zu erheben, wenn er nicht wirklich begründet ist.
wird den Staaten doch meistens widerstreben. Ge-
rade die Selbstachtung der Staaten wird es er-
fordern, ihre Ehre nicht als allzu gebrechlich und
ihre Lebensinteressen nicht als allzu leicht gefährdet
hinzustellen. Kann daher ein Staat ein Schieds-
gericht, das ihm von der andern Seite angeboten
wurde, nur unter Berufung auf seine Ehre und
seine Lebensinteressen ablehnen, so wird ihm eine
solche Ablehnung nicht so leicht sein als ohne jenes
Erfordernis. Zum Nachteil der internationalen
Gerechtigkeit und wohl auch zu dem des Völker-
friedens wird eine solche Erschwerung, sich dem
Schiedsgerichte zu entziehen, gewiß nicht wirken.
Hierzu kommt noch eines: Die Bestimmung des
Art. 16 der Konvention von 1899 (setzt Art. 38
jener von 1907) ist zwar eine solche, die in einem
Vertrage steht, sie besitzt aber selbst nicht Vertrags-
charakter. Sie ist nichts als die Anerkennung eines
theoretischen Satzes, als eine Anpreisung des
Schiedsgerichtes, aber keine Verpflichtung zur
Unterwerfung darunter. Sie hat Ahnlichkeit mit
jenen Formeln einzelner Verfassungsgesetze, die
nicht unmittelbar bindende Rechtsnormen ausstellen,
sondern nur Leitsätze für eine künftige Gesetzgebung
sein sollen und auch als solche oft jahrzehntelang
unausgeführt bleiben. Durch den russischen Antrag
von 1899 und durch den amerikanischen von 1907
aber wäre dieser Satz in eine wirkliche Vertrags-
norm umgewandelt worden, die eine wenn auch
Ausnahmen und allerdings recht weitmaschigen
Ausnahmen unterworfene rechtliche Verpflichtung
begründet hätte. Gerade das war es aber vielleicht,
was einzelne Staaten nicht wollten. Außerdem
wurde gegen diesen Antrag eingewendet, daß er
nicht genügend klar die Aufgabe der Schiedsgerichts-
barkeit begrenze, da die Unterscheidung der Fragen
juristischen Charakters von jenen politischer Art
nicht scharf genug sei, und daß er selbst unerheb-
liche Streitfragen, für die das schiedsgerichtliche
Verfahren zu schwerfällig und zu kostspielig sei,
nicht ausscheide. Der letztere Einwand trifft wohl
deshalb nicht zu, weil die Schiedsgerichtsbarkeit
immer nur subsidiär für solche Fälle in Betracht
kommt, in denen die Lösung im diplomatischen
Wege nicht gelungen ist. Trifft letzteres aber zu,