Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1423 
tragen werden als einem Kollegium der Inter- 
essenten, wie es die durch jenen Vertrag eingesetzte 
Kommission ihrer Natur nach ist. 
Einen eigentümlichen Widerspruch gegen die 
Opposition, die von seiten der deutschen Delegier- 
ten mit so viel Geist und Energie der obligatori- 
schen Schiedsgerichtsbarkeit entgegengestellt wurde, 
schien es zu begründen, daß von derselben Seite 
wiederholt die Einsetzung eines internationalen 
Kassationshofes zwar nicht für jetzt, aber doch für 
eine nicht ferne Zukunft angeregt wurde, der be- 
rufen wäre, in höchster Instanz über Konflikte auf 
dem Gebiete des internationalen Privatrechtes zu 
entscheiden, sowie daß Deutschland neben Groß- 
britannien sogar die Initiative zur Einsetzung 
eines internationalen Oberprisengerichtes ergriff. 
Denn gewiß enthält die Einsetzung eines solchen 
Oberprisengerichtes, das über die Rechtmäßigkeit 
oder Unrechtmäßigkeit des Vorgehens von Ma- 
rineoffizieren in Kriegszeiten zu ent- 
scheiden hat, eine tiefer eingreifende Beeinträch- 
tigung der Souveränität der Vertragsstaaten als 
die Berufung eines internationalen Schiedsgerich- 
tes über die Auslegung eines urheberrechtlichen 
Vertrages oder eines andern Vertrages über Ma- 
terien des internationalen Privatrechtes. 
In Beratungen, die in größeren oder kleineren 
Komitees durch nahezu vier Monate unter der schon 
auf der Ersten Konferenz bewährten Leitung von 
Léon Bourgeois stattfanden, hat eine Reihe der 
bedeutendsten Juristen Europas und Amerikas die 
vorgebrachten Einwendungen geprüft. Dans un 
6sprit de conciliation hat man nicht so sehr, 
wie dies oben versucht wurde, es unternommen, 
sie grundsätzlich zu widerlegen, sondern vielmehr 
danach gestrebt, ihnen durch Konzessionen die Spitze 
abzubrechen. Aus der Zahl jener Juristen seien 
hervorgehoben der NRestor der Konferenzen des 
internationalen Rechtes Friedrich v. Martens, der 
genaueste Kenner des internationalen Privatrechtes 
Asser, der Meister des englischen COommon Law 
Sir Edward Fry, die beiden theoretisch und prak- 
tisch gleichmäßig hervorragenden Rechtsgelehrten 
Italiens und Schwedens Fusinato und Hamar- 
stjöld, der in der Diplomatie wie im Gerichtssaale 
hervorragende amerikanische Jurist Choate, der 
als Professor und Anwalt gleichmäßig bewährte 
J. B. Scott, der scharfsinnige Denker und glän- 
zende Redner Ruy Barbosa aus Brasilien und 
der durch seine Amtsführung als argentinischer 
Minister des Außern berühmt gewordene Drago, 
vor allem aber Louis Renault, zu dessen über- 
legener Einsicht, Erfahrung und Darstellungskraft 
alle, auch die Gegner, mit Verehrung emporblick- 
ten, unterstützt von seinem gewandten Adlatus Fro- 
mageot. Solange es mit den für ihn maßgeben- 
den Instruktionen vereinbar war, hat auch der Ver- 
fasser dieses Aufsatzes versucht, jene Bestrebungen 
zu unterstützen, die auf Erzielung einer Einigung 
gerichtet waren. In der Schlußabstimmung wur- 
den für den englisch-amerikanisch-portugiesischen 
Internationale Schiedsgerichtsbarkeit. 
  
1424 
Antrag, der insbesondere auch an den beiden Por- 
tugiesen Marquis Soveral und Oliveira wie an 
dem Serben Milovanovich beredte und sachkun- 
dige Vertreter fand, 32 Stimmen gegen 8 (Deutsch- 
land, Osterreich-Ungarn, Belgien, Bulgarien, Grie- 
chenland, Rumänien, Schweiz, Türkei) abgegeben 
(bei 3 Stimmenthaltungen: Japan, Luxemburg, 
Montenegro). Nachdem auch die vermittelnden An- 
träge Osterreich-Ungarns (Mérey) und der Schweiz 
(Carlin und Max Huber) abgelehnt worden waren, 
einigte sich die Konferenz auf eine im wesentlichen 
von Tornielli formulierte Deklaration: „Die Kon- 
ferenz hat im Geiste der Verständigung und der 
gegenseitigen Zugeständnisse, der eben der Geist 
ihrer Beratungen ist, die folgende Deklaration be- 
schlossen, die, indem sie jeder der vertretenen Mächte 
den Vorteil ihrer Abstimmung wahrt, allen ge- 
stattet, die Grundsätze zu bestätigen, die sie als 
allgemein anerkannte betrachten. Sie ist einstim- 
mig darüber, 1) das Prinzip der obligatorischen 
Schiedssprechung anzuerkennen und 2) zu erklären, 
daß gewisse Differenzen und insbesondere die- 
jenigen, welche sich auf die Auslegung und An- 
wendung der internationalen vertragsmäßigen 
Vereinbarungen beziehen, geeignet sind, der obli- 
gatorischen Schiedssprechung ohne jede Einschrän- 
kung unterworsen zu werden.“ Im deutschen 
Weißbuche S. 39 ist diese Deklaration in einer 
ziemlich freien Übersetzung wiedergegeben. Ins- 
besondere ist die Abweichung der Übersetzung vom 
Originaltexte hinsichtlich des Eingangs wohl nicht 
gleichgültig. Es heißt dort, daß „sich jede der 
Mächte die Wahrung ihres eigenen Standpunktes 
vorbehält“, statt wie im Originale, daß „jede der 
Mächte sich den Vorteil ihrer Abstimmung wahrt"“, 
welche Fassung zu dem Zwecke gewählt worden 
sein dürfte, um den 32 Staaten der Majorität 
auf Grund ihrer im Haag erfolgten Abstimmung 
die Möglichkeit vorzubehalten, später außerhalb 
der Konferenz einen auf obligatorische Schieds- 
sprechung sich beziehenden Sondervertrag unter- 
einander zu schließen (vgl. die Rede Bourgeois' 
im Rapport von Charles Dupuy an den fran- 
zösischen Senat 1907, Nr 337, S.77 und fran- 
zösisches Gelbbuch S. 116). 
Ist es auch richtig, daß durch die Annahme der 
„Liste“ wohl niemals ein Krieg wäre vermieden 
worden, so ist es doch ebenfalls zweifellos, daß 
ihre Annahme in prinzipieller Beziehung von 
größerem Wert gewesen wäre als die volltönenden 
Worte der oben angeführten Deklaration. Des- 
halb wurde ihre Ablehnung nicht bloß von den- 
jenigen beklagt, die man mit einem gewissen 
Achselzucken als „Pazifisten“ bezeichnet. 
VI. Nichtanwendung von Gewalt zur 
Eintreihung vertragsmäßiger Schuldforde- 
rungen an fremde Staaten. Nur in einer ein- 
zigen bestimmt umschriebenen Richtung und nur 
in indirekter Weise wurde durch die Zweite Haager 
Konferenz auch die Verpflichtung aufgestellt, 
ein Schiedsgericht anzurufen, nämlich für den Fall,
	        
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