Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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mehr aber noch fallen die charakteristischen und 
von ihrer Umgebung unangenehm empfundenen 
Eigenarten im Wesen der Juden ins Gewicht. 
„Nicht in den Wirtsvölkern“, sagt der jüdische 
Schriftsteller Dr J. Fromer, „liegt der Grund 
des jüdischen Martyriums, sondern bei den Juden 
selbst. Das ist die immanente Erklärung der 
Frage, woher der ewige Judenhaß komme.“ 
Eine naturgemäße Folge ist es nun, daß sowohl 
das Judentum als die sie beherbergende Bevölke- 
rung in ihrem gegenseitigen Konflikte auf Mittel 
zur Abhilfe sinnen. Abgesehen von den schon er- 
wähnten Ursachen des Antisemitismus kam diesem 
noch der bis an die Grenzen des Chauvinismus 
oft sich steigernde nationale Gedanke fördernd ent- 
gegen, welcher die Judenfrage auf das Gebiet der 
Rasse hinüberspielt. Heute steht das Völkerleben 
unter dem Zeichen des Antisemitismus. Rußland 
und Rumänien, die klassischen Länder des Anti- 
semitismus, haben eine umfangreiche Judengesetz- 
gebung. Die Juden sind hier an bestimmte Wohn- 
sitze gebunden, haben zum Teil keine bürgerlichen 
Rechte, sind besondern Steuern unterworfen, wer- 
den in die öffentlichen Schulen nur in einem ge- 
wissen Prozentsatze aufgenommen, Aufnahme von 
Hypotheken auf Grundstücke, Verpachtung und 
Verwaltung ländlicher Grundstücke ist ihnen unter- 
sagt. Unter diesen Juden herrscht große Armut 
und Unbildung. Hier nahm der Antisemitismus 
öfters die Gestalt der rohen Gewalt an. Alljährlich 
wandern Zehntausende von russischen und rumä- 
nischen Juden aus. Die Haupteinwanderungs- 
länder Amerika und Australien, auch die Türkei 
haben Einwanderungsbeschränkungen gegen die 
Juden erlassen. In Deutschland ist der Anti- 
semitismus als organisierte Parteiform ohne große 
Bedeutung. Seit 1880 hat er eine greifbare Ge- 
stalt angenommen durch Gründung der Anti- 
semitenliga, welche sich seitdem öfters spaltete. 
Scharfe antisemitische Forderungen stellte die 
Christlich-soziale Partei unter Hofprediger Stöcker 
in ihrem Programm auf, welche unter anderem 
Ausschluß der Juden aus allen obrigkeitlichen 
Amtern und Verbot der Judeneinwanderung ver- 
langt; ebenso die Deutsche Reformpartei, welcher 
der „Kampf gegen den jüdischen Geist, gegen die 
wachsende Verjudung auf allen Gebieten des Lebens 
als eine wirtschaftliche, politische und sittliche Not- 
wendigkeit“ erscheint. Der Antisemitismus zählt 
im deutschen Reichstag etwa zehn Vertreter. Die 
Programme der Konservativen, des Zentrums und 
einiger Minderheitsparteien enthalten ebenfalls 
zum Teil kurz ausgesprochene, oder doch grund- 
sätzliche Momente gegen das Judentum. In OÖster- 
reich hat die Christlich-soziale Partei unter Lueger 
ein scharf antisemitisches Gepräge; desgleichen 
die Alldeutschen und die Deutsche Volkspartei. 
In Ungarn vertritt die Katholische Volkspartei 
den Antisemitismus. In Frankreich erzeugte die 
Panama= und Dreyfußaffäre eine antisemitische 
Strömung. 
Israeliten. 
  
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Im Hinblick auf die Aussichtslosigkeit der Assi- 
milation und die einsetzende antisemitische Flut er- 
wachte und wuchs, getragen von dem den Juden 
eigenen Enthusiasmus, das nationale Zusammen- 
gehörigkeitsbewußtsein. Schon 1860 bildete sich 
die Alliance Israélite Universelle zur allseitigen 
Förderung der jüdischen Interessen in Paris, 
welche heute über die ganze Welt verbreitet nament- 
lich in den Ländern des Orients durch Gründung 
von Schulen usw. tätig ist. 
Vom Osten Europas, wo die Bewegung den 
Wünschen und Bedürfnissen der jüdischen Volks- 
massen entspricht, pflanzte sich der Schrei nach 
nationalem Zusammenschluß wie ein Echo fort 
nach dem Westen, wo dem Gedanken in der jü- 
dischen Intelligenz und Finanz warme Verfechter 
entstanden. Seine Verwirklichung versucht der 
Zionismus. Derselbe erstrebt die Zentralisation 
des gesamten Judentums zu nationaler und poli- 
tischer Wiedergeburt. Dr Theodor Herzl brachte 
mit seinem Buche „Der Judenstaat“ (1896) den 
Stein ins Rollen. Er gründete die jüdische Kolo- 
nialbank in London und wurde an den meisten Hö- 
sen Europas wegen seiner Absichten vorstellig. Die 
Land= und Heimatfrage ist der springende Punkt 
des Zionismus. Sie spaltet die Zionisten in zwei 
Lager, die Territorialisten und die Palästinenser. 
Letztere knüpfen an Religion und Geschichte an und 
halten an der Errichtung des jüdischen National- 
staates in Palästina fest. Dieses kann nun wohl 
als geistiges nationales Zentrum für die jüdischen 
Völkersplitter in Betracht kommen, niemals aber 
als der zukünftige Nationalstaat. Denn die Auf- 
nahmefähigkeit Palästinas für größere Bevölke- 
rungsmassen ist bald erschöpft. Außerdem hat das 
heutige Palästina einen agrarischen Charakter, die 
sich ansiedelnden Juden müßten also vorwiegend 
Bauern sein, während auf der ganzen Welt höch- 
stens 1 / ackerbautreibende Juden sich befinden. 
Ferner bildet das heutige Judentum keine reli- 
giöse Einheit mehr. Bildungsgrad und Kultur- 
stufe zwischen den orthodoxen Talmudghettojuden 
in Osteuropa und den aufgeklärten liberalen Juden 
im Westen sind zu verschieden, als daß ein ein- 
heitliches Zusammenwirken möglich wäre. Über- 
dies fällt es den reichen westeuropäischen Juden 
nicht ein, die europäischen Kulturzentren mit den 
verödeten Landschaften des Jordantales zu ver- 
tauschen. Der Zionismus erweist sich theoretisch 
als die beste, praktisch als die undurchführbarste 
Lösung der Judenfrage. Das Aufflackern der mo- 
dernen Juden für die nationale Idee ist nur das 
Zucken eines tausendjährigen Gedankens. Die 
Sage vom ewigen Juden ist das Sinnbild von 
der jüdischen Volksexistenz. 
In Anbetracht des tausendjährigen welthisto- 
rischen Dramas der Judenfrage ist man fast ver- 
sucht, an einen unentrinnbaren Fatalismus zu 
glauben, mit welchem die Völker zu rechnen haben. 
Der Antisemitismus in seinen verschiedenen Formen 
drängt nach Maßnahmen dem Ubergewichte des
	        
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