1539
Kaiser. [Allgemeines; Das römische Kaiser-
tum; Das heilige römische Reich deutscher Nation;
Das deutsche Kaisertum.]
A. Allgemeines. I. Begriff. Kaiser ist die
Bezeichnung der höchsten weltlichen Gewalt und
Würde, welche, entnommen dem Familiennamen
„Cäsar“, von den Beherrschern des antiken rö-
mischen Reichs und in der Folge auch von den
Beherrschern anderer Staaten geführt worden ist
und noch geführt wird, so gegenwärtig in Deutsch-
land, Osterreich, Rußland, der Türkei, Persien,
China, Japan, Marokko und früher in Frank-
reich, Mexiko, Haiti, Brasilien. Karl IV. von
Spanien nahm 1807 den Titel eines Kaisers
beider Amerika an, und als Nebentitel führt der
König des Vereinigten Königreichs von Groß-
britannien und Irland seit 1876 den Titel
„Kaiser von Indien“. Ein allgemeiner Rechts-
begriff des Kaisers läßt sich nicht aufstellen; nicht
einmal ein über die Aufgaben eines jeden Herr-
schers hinausgehendes politisches Prinzip liegt
allgemein dem Titel Kaiser zugrunde, da dieser
Titel nicht nur in Monarchien, sondern auch in
Republiken (Rom, Frankreich), im Einheitsstaat
(Osterreich, Rußland) wie im Bundesstaat (Deut-
sches Reich), bei Kleinstaaten (Hatti) ebenso wie
bei Großmächten vorkommt.
II. Geschichte. Ein geschichtlicher, nicht ein
rechtlicher Zusammenhang besteht in der Entwick-
lung des Kaisertums in Europa. Das römische
Kaiserreich ward durch Theodosius d. Gr. in ein
weströmisches mit der Hauptstadt Rom und ein
oströmisches mit der Hauptstadt Byzanz geteilt
(395). An Stelle des abendländischen Kaiserreichs,
welches durch germanische Völkerschaften unter
Odoaker zerstört wurde (476), trat mit Karl d. Gr.,
der an Weihnachten 800 von Papst Leo III, zum
römischen Kaiser gekrönt wurde, das römische
Kaisertum der Frankenkönige (800/888), und
nachdem dieses römische Kaisertum vorübergehend
bis auf die Bedeutung eines italienischen Fürsten-
tums herabgesunken (891/924: Herzog Guido
von Spoleto, Lambert von Spoleto, Arnulf, Lud-
wig von der Provence, Berengar von Friaul),
auch einige Zeit ohne Träger gewesen war (924
bis 962), seit Otto d. Gr. das römische Kaisertum
deutscher Nation. Das oströmische Reich, welches
die Ansprüche auf ein Weltkaisertum im Sinne der
römischen Imperatoren nie aufgab und unter
Kaiser Justinian auch vorübergehend verwirklichte,
dauerte bis zur Eroberung Konstantinopels durch
die Türken (1453); es ist gekennzeichnet durch den
Absolutismus des Staatswesens, die Beherrschung
der Kirche durch den Staat, die Trennung von der
in Rom geeinten katholischen Kirche und von der
abendländischen Kultur (griechisches Schisma, By-
zantinismus). An den Sturz des oströmischen
Reichs knüpfen zwei Kaiserreiche an: das Reich
der osmanischen Eroberer, deren Sultan den Titel
Kaiser annahm, und das russische Reich, in welchem
Iwan III. Wassiljewitsch, Gemahl der griechischen
Kaiser.
1540
Prinzessin Sophia, den zweiköpfigen Adler des
byzantinischen Wappens in sein Reichswappen
aufnahm und sich den Titel „Autokrator“ beilegte
(1489). Der Kaisertitel des Sultans erhielt aller-
dings erst im Frieden von Passarowitz (1718)
die Anerkennung der Ranggleichheit mit dem
römischen Kaiser deutscher Nation, und erst in
dem Pariser Vertrag vom 30. März 1856 wurde
die Pforte „in die Gemeinschaft des öffentlichen
Rechts und des Zusammenwirkens der Staaten
Europas ausgenommen“: eine Gleichstellung des
Halbmonds mit dem Kreuz, welche mit dem mo-
hammedanischen Weltherrschaftsgedanken ebenso-
wenig innerlich vereinbar ist wie mit den Aufgaben
christlicher Großmächte. Der Charakter Rußlands,
dessen Zar seit 1721 den Titel „Kaiser und
Selbstherrscher aller Reußen“ führt, entspricht
unverkennbar dem des oströmischen Reichs: ein
schismatisches und absolutistisches Kaisertum,
welches die höchste geistliche und weltliche Gewalt
in einer Person vereinigt, die Schirmherrschaft
über die orthodoxe Kirche auch außerhalb Ruß-
lands beansprucht und auf Eroberung Konstan-
tinopels und der vormals oströmischen Gebiete be-
hufs Gründung eines östlichen, in Europa und
Asien herrschenden Weltreichs abzielt. Mit der
Auflösung des römischen Kaisertums deutscher
Nation hängt wieder die Gründung zweier Kaiser-
reiche zusammen, des französischen und des öster-
reichischen. Napoleon I., „Kaiser der Franzosen“
(1804/14), hatte die ausgesprochene Absicht, das
Reich Karls d. Gr. wieder aufzurichten, und die
Gründung des Rheinbundes, dessen Protektorat
er übernahm, sollte diesem Zwecke dienen; es ist
nur ein Anklang an die alte Kaiseridee, daß er
seinen Sohn als König von Rom bezeichnete;
um seiner Würde eine religiöse Weihe zu ver-
schaffen, ließ er sich durch Papst Pius VII. in
Paris zum Kaiser salben, während er die Krone
sich selbst aufs Haupt setzte, damit jeder Gedanke
an eine Verpflichtung gegenüber der Kirche und
ihrem Oberhaupte ausgeschlossen sei. Dieses revo-
lutionäre Kaisertum, aufgebaut auf einer militäri-
schen und bureaukratischen Diktatur, brach rasch
zusammen, und seine Erneuerung unter Napo-
leon III. (1852/70) erwies sich ebenso als ein
innerlich haltloses Gebilde. Erhalten hat sich da-
gegen das österreichische Kaiserreich, welches von
Kaiser Franz II. schon vor der Auflösung des
deutschen Reichs am 11. Aug. 1804 durch An-
nahme des Kaisertitels für seine Erblande als
Kaiser Franz I. geschaffen wurde und durch Bei-
behaltung des Wappens und der Farben sowie
mancher politischen Uberlieferungen des heiligen
römischen Reichs an den geschichtlichen Zusammen-
hang erinnert. Auf der Besiegung Osterreichs
und der Zerschmetterung des französischen Kaiser-
reichs hat sich endlich das deutsche Kaisertum auf-
gebaut, das in dem Bündnis mit Osterreich die
Unzulänglichkeit der eigenen Kraft, die Bedeutung
Osterreichs und die Notwendigkeit einer Zusam-