Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1561 
der Ankauf der Karolinen-, Marianen- und 
Palau-Inseln. Auch die kaiserliche Sozialpolitik 
hat über die Wahrung der „eigenen“ Angelegen- 
heiten hinaus zur Einberufung der internationalen 
Arbeiterschutzkonferenz geführt (1890). Zu durch- 
greifenden Anderungen der Politik zwang endlich 
die gewaltige Vermehrung der deutschen Bevöl= 
kerung und die damit zusammenhängende ganz 
außerordentliche Steigerung der deutschen See- 
interessen, insbesondere des Seehandels. Zum 
Schutze dieser Interessen ist die deutsche Kriegs- 
flotte durch die Gesetze vom 10. April 1898 und 
14. Juni 1900 bedeutend verstärkt und damit 
das militärische Machtmittel zur Durchführung 
einer Weltmachtpolitik geschaffen worden. Über 
die Aufgaben dieser Politik äußerte der Kaiser am 
4. Juli 1900 bei dem Stapellauf eines Linien= 
schiffs zu Wilhelmshaven: „Der Wellenschlag des 
Ozeans klopft mächtig an unseres Volkes Tore 
und zwingt es, als ein großes Volk seinen Platz 
in der Welt zu behaupten, mit einem Wort, zur 
Weltpolitik. Der Ozean ist unentbehrlich für 
Deutschlands Größe. Aber der Ozean beweist 
auch, daß auf ihm und in der Ferne jenseits von 
ihm ohne Deutschland und ohne den Deutschen 
Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen darf. 
Ich bin nicht der Meinung, daß unser deutsches 
Volk vor 30 Jahren unter der Führung seiner 
Fürsten gesiegt und geblutet hat, um sich bei 
großen auswärtigen Entscheidungen beiseite schie- 
ben zu lassen. Geschähe das, so wäre es ein für 
allemal mit der Weltmachtstellung des deutschen 
Volkes vorbei, und Ich bin nicht gewillt, es dazu 
kommen zulassen. Hierfür die geeigneten, und wenn 
es sein muß, auch die schärfsten Mittel rücksichtslos 
anzuwenden, ist Meine Pflicht nur, Mein schönstes 
Vorrecht.“ — 3) Die Bezeichnung des Bundes- 
präsidiums als Kaiser entsprach nicht der deutschen 
Volksauffassung, wie sie sich in den letzten Jahr- 
hunderten des römischen Kaisertums deutscher 
Nation gebildet hatte, denn diese legte den Kaiser- 
titel einer monarchischen Gewalt bei. Dieses 
Widerspruches zwischen Bezeichnung und Inhalt 
des kaiserlichen Amtes war man sich bei Grün- 
dung des Reichs wohl bewußt. Bismarck bemerkt 
in seinen „Gedanken und Erinnerungen“, die An- 
nahme des Keisertitels sei ein politisches Be- 
dürfnis gewesen, weil er in den Erinnerungen aus 
Zeiten, da er rechtlich mehr, faktisch weniger als 
heute zu bedeuten hatte, ein werbendes Element 
für Einheit und Zentralisation bildete. Der Groß- 
herzog von Baden äußerte am 9. Dez. 1870: 
der heute scheinbar leere Kaisertitel werde bald 
genug zur vollen Bedeutung gelangen, und Kron- 
prinz Friedrich (vgl. dessen Tagebuch) erinnerte 
noch am Tage vor der Kaiserproklamation in Ver- 
sailles in einer Erörterung mit König Wilhelm I. 
über die Bedeutung der Kaiserwürde daran, daß 
auch Friedrich I. ein Scheinkönigtum geübt habe, 
und daß dasselbe später doch so mächtig geworden 
sei, worauf König Wilhelm, der sich früher gegen 
Kaiser. 
  
1562 
den „Charakter-Major“ gesträubt hatte, erwiderte: 
der Kronprinz und dessen Nachkommen seien be- 
rufen, das gegenwärtig hergestellte Reich zur 
Wahrheit zu machen. Die bisherige Politik und 
Gesetzgebung des Reichs scheint dieser Prophezei- 
ung zu entsprechen, denn ihr Kurs geht in der 
Richtung zum Einheitsstaat, und der Zuwachs 
an Rechten, welche das Kaisertum erfahren hat, 
trägt unverkennbar einen monarchischen Charakter: 
a) Die Bedeutung des Reichs hat mächtig zu- 
genommen, die der Einzelstaaten abgenommen. 
Die fortschreitende, immer weitere Gebiete um- 
spannende Reichsgesetzgebung drängt die Einzel- 
staaten mehr und mehr in die Rolle bloßer Aus- 
führungsorgane und Verwaltungskörper. Die 
Verstärkung des Heeres und der Kriegsflotte und 
die hierzu erforderliche Steigerung der militäri- 
chen Ausgaben schwächt die Finanzkräfte der 
Einzelstaaten. Die Entfaltung der Weltmacht- 
politik stellt die kleineren Staaten vollends in den 
Schatten. Im Innern wirken die sozialen und 
wirtschaftlichen Kampfesfragen zentralisierend, da 
ihre Lösung nur im großen, im Reich erfolgen 
kann. Dazu kommt, daß im Bundesrate neben 
der vorwiegenden Tätigkeit Preußens die Mit- 
wirkung der übrigen Regierungen vielfach nur 
einen formellen Charakter trägt, wie die mehr- 
fachen öffentlichen Mitteilungen des früheren 
württembergischen Staatsministers v. Mittnacht 
klar erkennen lassen. Der diplomatische Ausschuß 
des Bundesrates, den man sich als ein gewisses 
Korrektiv gegen verhängnisvolle Entschließungen 
in der auswärtigen Politik gedacht hat, tritt 
fast nie zusammen. Nicht minder auffallend ist 
die Beharrlichkeit, mit welcher der Kaisertitel 
im diplomatischen Sprachgebrauch der Staats- 
verträge immer wieder falsch übersetzt wird als 
Empereur d’Allemagne, Imperatore di Ger- 
mania, Emperador de Alemania. — b) Wäh- 
rend der erhöhte strafrechtliche Schutz gegen Hoch- 
verrat und Beleidigung, welchen das R. Str. G. B. 
in §§ 80, 94, 95 für den Keiser einführte, 
sich immerhin aus der amtlichen Stellung des- 
selben noch erklären läßt, ist das Begnadigungs- 
recht, welches dem Kaiser durch die R. Str. P.O. 
vom 1. Febr. 1877 (§ 484) und durch das 
Reichsgesetz über die Konsulargerichtsbarkeit vom 
10. Juli 1879 (§ 42) in den vom Reichs- 
gericht in einziger Instanz (Ausnahmegericht für 
Hoch= und Landesverrat gegen Kaiser und Reich!) 
und vom Konsul oder Konsulargericht in erster 
Instanz abgeurteilten Strassachen übertragen wor- 
den ist, wesentlich im Sinne eines monarchischen 
Rechts gestaltet. — c) Durch die Reichsgesetze 
vom 9. Juni 1871 und 17. April 1886 ist 
dem Kaiser die Ausübung der Staatsgewalt in 
Elsaß-Lothringen und in den deutschen Schutz- 
gebieten übertragen worden. Diese Ausübung 
der Staatsgewalt findet allerdings statt im 
Namen des Reichs; aber bei Elsaß-Lothringen 
ist die Mitwirkung des Bundesrates und des 
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