1587 Kant. 1588
tische) Wissenschaft ist daher unmöglich. Anders den innern Endzweck des Handelns bildet als
die praktische Vernunft! Ihr Grundgesetz ist dessen bewegende Triebfeder, wenn es also aus
konstitutiv, und die Ideen, welche der spekulativen reiner Achtung vollbracht wird, nicht aus Neigung;
Vernunft als bloße Möglichkeiten gelten, werden denn andernfalls würde ja wieder die Lust, sei es
ihr zu Postulaten der Wirklichkeit. Ihr Grund- die des eigenen Vorteils oder die des Wohlwollens,
gesetz kündigt sich in der innern Erfahrung an als zum bewegenden Prinzip oder Motiv des sittlichen
ein faktisch sich uns aufdrängendes Sittengesetz, Handelns werden, was nach obigem unmöglich
als ein Sollen, als ein Imperativ für den Willen, ist. Nicht die materiellen Objekte vermittelst der
und zwar nicht bloß als ein hypothetischer, bedingt von ihnen erweckten Lust bilden die reine Trieb-
gebietender, sondern als ein kategorischer, unbe= feder des sittlichen Handelns, sondern nur die for-
dingt gebietender Imperativ, welcher weiter nicht male Gesetzmäßigkeit derselben und dieihnenbezeigte
erklärbar und begreifbar ist (Werke IV 463; V31, Achtung. Die Förderung der eigenen wie der
91). Da dieses Grundgesetz sich als streng not- fremden Glückseligkeit kann nur Wirkung des sitt-
wendig ankündigt in der innern Erfahrung, so lichen Handelns sein, nicht dessen Grundgesetz und
kann es nicht aus der Erfahrung stammen, ist Bestimmungsgrund (Werke IV 441; V 34, 35),
sonach ein Gesetz a priori, und zwar ein synthe= kann also auch nicht in die subjektive Maxime des-
tisches, weil nicht eingeschlossen im Begriffe des selben aufgenommen werden. Der „kategorische
Willens. Es ist auch von rein formaler Natur. Imperativ“ (d. h. der nicht von einer Bedingung
Das egoistische Lustgefühl des Einzelnen ver= abhängige, sondern unbedingte Imperativ) lautet
mag nicht allgemeines Gesetz zu werden, weil es, sonach folgendermaßen: Handle so, daß deine
zu einem solchen erhoben, sich selber widersprechen Maxime allgemeines Gesetz werden kann!
würde. Es käme auf diese Art „eine Harmonie Do ferner das oberste Sittengesetz nur das
heraus, die derjenigen ähnlich ist, welche ein ge-Gesetz der eigenen praktischen Vernunft des eigenen
wisses Spottgedicht auf die Seeleneintracht zweier Willens ist und rein um seiner selbst willen voll-
sich zu Grunde richtenden Eheleute schildert: „O bracht werden soll, so lautet der kategorische Im-
wundervolle Harmonie! Was er will, will auch perativ auch so: „Erfülle die Pflicht rein um der
sie" — oder was von der Anheischigmachung König
Franz' I. gegen Kaiser Karl V. erzählt wird:
„Was mein Bruder Karl haben will (Mailand),
das will ich auch haben"“ (Werke V 28). Eben-
sowenig vermag das Lustgefühl der Sympathie
ein allgemeines Gesetz zu werden. In der vor-
kritischen Periode hatte Kant allerdings das Sitten-
gesetz auf empirische Weise aus der „Natur des
Menschen, die immer bleibt“, im Anschlusse an
Shaftesbury, Hutcheson, Hume abgeleitet (Ein-
richtung der Vorlesungen im Wintersemester
1765/66; Werke II 311); doch in der Abhand-
lung De mundi sensibilis et intelligibilis
forma et principüss (1770) und mehr noch in der
„Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und
in der „Kritik der praktischen Vernunft“ verwarf
er diese Auffassung, weil das Gefühl des Wohl-
wollens oder das sog. moralische Gefühl nicht überall
vorhanden ist, allüberall da aber, wo es kraft einer
glücklichen Gemütsrichtung und Gemütsstimmung
vorhanden ist, immer auch einen Beitrag zum
eigenen Wohlbefinden liefert und keine schlechter-
dings notwendige Voraussetzung der Sittlichkeit
ausmacht (Werke II 394/95; IV 398, 442;
V22, 38). Sittlichkeitslehre ist nicht Glückselig-
keitslehre; jeglicher Eudämonismus ist verwerflich.
Nicht die von irgend welchen Objekten erregte Lust,
sondern der Wille macht eine Handlung zu einer
sittlich guten Handlung.
Das Grundgesetz des sittlichen Lebens ist also
der mit sich übereinstimmende Wille vernünftiger
Wesen oder der Wille aller, sofern er die Form
der Ubereinstimmung mit sich selber an sich hat.
Absoluter Endzweck des Handelns ist es jedoch
nur, wenn es nicht bloß den äußeren, sondern auch
Pflicht willen, nicht um der Forderungen der
sinnlichen Natur und nicht um Gottes willen.“
Nur die Autonomie des Willens ist die Basis der
Sittlichkeit, nicht irgend welche Heteronomie des-
selben, also insbesondere nicht Theonomie. Au-
tonomie (Selbstgesetzgebung) des Willens setzt aber
Freiheit voraus, und zwar eine negative, bestehend
in der Unabhängigkeit desselben von fremden
Bestimmungsgründen, und eine daraus sich er-
gebende positive, bestehend in dem Vermögen des
einzelnen, sich selber zu bestimmen (Werke IV 446),
und insbesondere auch, sich so oder anders zu be-
stimmen (Werke V 95/98; vgl. auch Kants Be-
sprechung von Schulz, Versuch einer Anleitung
zur Sittenlehre für alle Menschen, bei Rosenkranz
u. Schubert VII 137/142), ja sogar für oder
wider das Gesetz zu handeln, wiewohl dieses letztere
kein wesentliches Merkmal freier Vernunftwesen
ausmacht (Werke V1226). Wir sollen, also können
wir. Sonach bildet das Sittengesetz den Erkenntnis-
grund der Freiheit, diese aber eine sachliche Vor-
aussetzung, einen Realgrund des Sittengesetzes,
weil sie dessen Realisierung ermöglicht (Werke V.
3/4). Und wie die Freiheit in solchem Sinne ein
Postulat der reinen, praktischen Vernunft ist, so
erscheinen die Unsterblichkeit unserer Seele behufs
einer über das irdische Leben und dessen Kampf
hinausgehenden, völlig angemessenen Realisierung
des Sittengesetzes und die Existenz eines persön-
lichen Gottes behufs der Realisierung einer der
moralischen Würdigkeit angemessenen Glückseligkeit
als zwei weitere Postulate derselben.
Alle diese Postulate sind Gegenstände eines
praktischen Vernunftglaubens, welcher einem Ver-
nunftbedürfnisse entspringt, ohne selber eine Pflicht