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Die von der richterlichen Gewalt verhängte Strafe
kann niemals bloß den Zweck haben, das allge-
meine Beste zu fördern; sie muß zugleich den Zweck
der Wiedervergeltung haben. Ihr Prinzip muß
sein: Gleiches soll mit Gleichem vergolten werden
(ius talionis), wenigstens mit Gleichem der Wir-
kung nach, wiewohl nicht notwendig dem Buch-
staben nach. Wer also gemordet hat, soll sterben;
es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der
Gerechtigkeit. Die Lehre Beccarias, daß die Todes-
strafe unberechtigt sei, ist „aus teilnehmender
Empfindelei einer affektierten Humanität“ hervor-
gegangen. Vgl. zu dieser ganzen Darstellung be-
sonders Rechtslehre §§ 45/52; Werke VI 313/342
und „Zum ewigen Frieden“, bei Rosenkranz und
Schubert VII 241/246.
Diese ganze Staatstheorie ist ein Widerhall der
Grundsätze, welche, einerseits in der politischen
Entwicklung Englands seit der Zeit der englischen
Revolution und in den Gründungsurkunden der
nordamerikanischen Pflanzerstaaten, anderseits in
der publizistischen Literatur von Locke bis Rousseau
vorbereitet, die französische Revolution bewegten
und die in der „Erklärung der Menschenrechte“
haben (La Declaration des Droits de IHomme,
Kant.
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tiven Widerstandes“ geltend machen, indem sie
den vom Regenten gestellten Forderungen nicht
willfahrt; sie darf dessen Verwaltung reformieren,
da er in Unterordnung zu ihr steht, ja denselben
der Gewalt entkleiden und absetzen, doch nicht mit
physischem Zwange gegen denselben vorgehen, da
ja das physische Zwangsrecht ein ausschließliches
Prärogativ des Regenten selber ist, und darf in-
folgedessen auch nicht zur faktischen Entthronung
desselben fortschreiten, noch weniger zu dessen
förmlicher Hinrichtung, die ein keiner Sühne
fähiger Frevel ist, und in die Konstitution auch
keinen Artikel aufnehmen, welcher in jenes aus-
schließliche Prärogativ des Herrschers beschränkend
eingriffe, ja den Untertanen irgendwie einen über
das Bitte= und Beschwerderecht hinausgehenden
Widerstand erlauben oder gar befehlen würde. Als
Landesherr kann der Herrscher nicht bloß das
Privateigentum beschatzen, sondern auch die Güter
der Korporationen und der Kirche einziehen, wenn
sie ihrem Zwecke nicht mehr entsprechen. Er kann
zwar der Kirche nicht ihre innere Konstitution,
ihren Glauben und ihre gottesdienstlichen Formen
vorschreiben, besitzt aber das negative Recht, deren
ihren rhetorisch prägnanten Ausdruck gefunden
avec commentaire par E. Blum1906)]; G.Jel-
linek, Die Erklärung der Menschen= und Bürger-
rechte I/2 1906|). Nur werden bei Kant diese
Grundsätze unter die Vernunftformel des kate-
gorischen Imperativs gestellt, um aus ihm, so gut
oder so übel es ging, abgeleitet zu werden. So
revolutionär aber die Theorie Kants ist rücksicht-
lich der Idee des Staates, so antirevolutionär ist
sie rücksichtlich der tatsächlichen Ausführung der-
selben. Sie enthält nach dieser zweiten Seite hin
die deutlichsten Spuren der Eindrücke, welche die
Ermordung Ludwigs XVI. und die Schreckens-
herrschaft des Nationalkonvents in der Seele des
Hüebers der Rechtslehre von 1797 zurückgelassen
atten.
Die gesetzgebende Gewalt ist untadelig (irrepre-
hensibel), die regierende unwiderstehlich (irresi-
stibel) und die oberstrichterliche unabänderlich (in-
appellabel); also gibt es für die Untertanen selbst
gegenüber dem schreiendsten Unrechte keinerlei Recht
des Widerstandes; das ist nach dieser zweiten
Seite hin Kants Grundanschauung. Die gesetz-
gebende Gewalt kann als vereinigter Wille aller
niemand unrecht tun gemäß dem Axiom: Vo-
lenti non sit iniuria. Die regierende Gewalt,
der Regent, kann allerdings unrecht tun, wenn er
gegen die Gesetze handelt, also z. B. gegen das
Gesetz der Gleichheit in Verteilung der Lasten Auf-
lagen macht, Rekrutierungen vornimmt usw.; es
darf ihm aber weder von seiten der gesetzgebenden
Gewalt noch von seiten der Untertanen jemals
ein tatkräftiger Widerstand entgegengesetzt werden.
Die gesetzgebende Gewalt kann in solchen Fällen
allüberall da, wo sie auf getrennte Weise im
Parlamente ausgeübt wird, ein Recht des „nega-
Einfluß auf das sichtbare, politische Gemeinwesen,
falls er der öffentlichen Ruhe nachteilig sein würde,
einzuschränken und abzuhalten (vgl. Rechtslehre
8§ 48, 49; Werke VI 316/328; ferner Rosen-
kranz u. Schubert VII 208/218).
Der natürliche Rechtszustand der Staaten ist
ein Kriegszustand; denn wie die einzelnen Per-
sonen im Naturzustande ihr Recht gegen die andern
mit Gewalt geltend machen können, so auch die
einzelnen Staaten gegeneinander. Wie aber die
ersteren aus der natürlichen Gesellschaft in eine
bürgerliche übertreten sollen, so sollen auch die
zweiten aus der natürlichen Völkergesellschaft in
eine den Frieden garantierende den Ubergang ge-
winnen. Das Recht der Einzelstaaten vor und
nach diesem Übergange heißt Völkerrecht. Es
ist ein Recht teils zum Kriege teils im Kriege teils
nach dem Kriege. Ein Recht zum Kriege von seiten
eines Einzelstaates besteht schon im Falle der Be-
drohung, nicht erst im Falle tatsächlichen Angriffes
von außen; ein solcher Krieg muß jedoch in einem
Staate mit idealer Verfassung, wo die gesetzgebende
Gewalt von der regierenden getrennt ist, von den
Repräsentanten des Volkes frei beschlossen worden
sein. Das Recht im Kriege verbietet es, den Krieg
zu einem Straf-, Ausrottungs-- oder Unterjochungs-
kriege zu machen, ferner tückischer Mittel, wie der
Spioniererei, des Meuchelmordes, sich zu bedienen
und einzelne Personen auszuplündern; nur die
Auferlegung von Lieferungen und Kontributionen
kann gestattet sein. Das Recht nach dem Kriege,
d. h. im Zeitpunkte des Friedensvertrages und in
Hinsicht auf die Folgen desselben, verbietet einen
Antrag auf Erstattung der Kriegskosten, weil hiermit
der Krieg des überwundenen Gegners für ungerecht
ausgegeben werden müßte, und verbietet um so
mehr die Herabsetzung des überwundenen Volkes