Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1595 
Die von der richterlichen Gewalt verhängte Strafe 
kann niemals bloß den Zweck haben, das allge- 
meine Beste zu fördern; sie muß zugleich den Zweck 
der Wiedervergeltung haben. Ihr Prinzip muß 
sein: Gleiches soll mit Gleichem vergolten werden 
(ius talionis), wenigstens mit Gleichem der Wir- 
kung nach, wiewohl nicht notwendig dem Buch- 
staben nach. Wer also gemordet hat, soll sterben; 
es gibt hier kein Surrogat zur Befriedigung der 
Gerechtigkeit. Die Lehre Beccarias, daß die Todes- 
strafe unberechtigt sei, ist „aus teilnehmender 
Empfindelei einer affektierten Humanität“ hervor- 
gegangen. Vgl. zu dieser ganzen Darstellung be- 
sonders Rechtslehre §§ 45/52; Werke VI 313/342 
und „Zum ewigen Frieden“, bei Rosenkranz und 
Schubert VII 241/246. 
Diese ganze Staatstheorie ist ein Widerhall der 
Grundsätze, welche, einerseits in der politischen 
Entwicklung Englands seit der Zeit der englischen 
Revolution und in den Gründungsurkunden der 
nordamerikanischen Pflanzerstaaten, anderseits in 
der publizistischen Literatur von Locke bis Rousseau 
vorbereitet, die französische Revolution bewegten 
und die in der „Erklärung der Menschenrechte“ 
haben (La Declaration des Droits de IHomme, 
Kant. 
  
1596 
tiven Widerstandes“ geltend machen, indem sie 
den vom Regenten gestellten Forderungen nicht 
willfahrt; sie darf dessen Verwaltung reformieren, 
da er in Unterordnung zu ihr steht, ja denselben 
der Gewalt entkleiden und absetzen, doch nicht mit 
physischem Zwange gegen denselben vorgehen, da 
ja das physische Zwangsrecht ein ausschließliches 
Prärogativ des Regenten selber ist, und darf in- 
folgedessen auch nicht zur faktischen Entthronung 
desselben fortschreiten, noch weniger zu dessen 
förmlicher Hinrichtung, die ein keiner Sühne 
fähiger Frevel ist, und in die Konstitution auch 
keinen Artikel aufnehmen, welcher in jenes aus- 
schließliche Prärogativ des Herrschers beschränkend 
eingriffe, ja den Untertanen irgendwie einen über 
das Bitte= und Beschwerderecht hinausgehenden 
Widerstand erlauben oder gar befehlen würde. Als 
Landesherr kann der Herrscher nicht bloß das 
Privateigentum beschatzen, sondern auch die Güter 
der Korporationen und der Kirche einziehen, wenn 
sie ihrem Zwecke nicht mehr entsprechen. Er kann 
zwar der Kirche nicht ihre innere Konstitution, 
ihren Glauben und ihre gottesdienstlichen Formen 
vorschreiben, besitzt aber das negative Recht, deren 
ihren rhetorisch prägnanten Ausdruck gefunden 
avec commentaire par E. Blum1906)]; G.Jel- 
linek, Die Erklärung der Menschen= und Bürger- 
rechte I/2 1906|). Nur werden bei Kant diese 
Grundsätze unter die Vernunftformel des kate- 
gorischen Imperativs gestellt, um aus ihm, so gut 
oder so übel es ging, abgeleitet zu werden. So 
revolutionär aber die Theorie Kants ist rücksicht- 
lich der Idee des Staates, so antirevolutionär ist 
sie rücksichtlich der tatsächlichen Ausführung der- 
selben. Sie enthält nach dieser zweiten Seite hin 
die deutlichsten Spuren der Eindrücke, welche die 
Ermordung Ludwigs XVI. und die Schreckens- 
herrschaft des Nationalkonvents in der Seele des 
Hüebers der Rechtslehre von 1797 zurückgelassen 
atten. 
Die gesetzgebende Gewalt ist untadelig (irrepre- 
hensibel), die regierende unwiderstehlich (irresi- 
stibel) und die oberstrichterliche unabänderlich (in- 
appellabel); also gibt es für die Untertanen selbst 
gegenüber dem schreiendsten Unrechte keinerlei Recht 
des Widerstandes; das ist nach dieser zweiten 
Seite hin Kants Grundanschauung. Die gesetz- 
gebende Gewalt kann als vereinigter Wille aller 
niemand unrecht tun gemäß dem Axiom: Vo- 
lenti non sit iniuria. Die regierende Gewalt, 
der Regent, kann allerdings unrecht tun, wenn er 
gegen die Gesetze handelt, also z. B. gegen das 
Gesetz der Gleichheit in Verteilung der Lasten Auf- 
lagen macht, Rekrutierungen vornimmt usw.; es 
darf ihm aber weder von seiten der gesetzgebenden 
Gewalt noch von seiten der Untertanen jemals 
ein tatkräftiger Widerstand entgegengesetzt werden. 
Die gesetzgebende Gewalt kann in solchen Fällen 
allüberall da, wo sie auf getrennte Weise im 
Parlamente ausgeübt wird, ein Recht des „nega- 
  
Einfluß auf das sichtbare, politische Gemeinwesen, 
falls er der öffentlichen Ruhe nachteilig sein würde, 
einzuschränken und abzuhalten (vgl. Rechtslehre 
8§ 48, 49; Werke VI 316/328; ferner Rosen- 
kranz u. Schubert VII 208/218). 
Der natürliche Rechtszustand der Staaten ist 
ein Kriegszustand; denn wie die einzelnen Per- 
sonen im Naturzustande ihr Recht gegen die andern 
mit Gewalt geltend machen können, so auch die 
einzelnen Staaten gegeneinander. Wie aber die 
ersteren aus der natürlichen Gesellschaft in eine 
bürgerliche übertreten sollen, so sollen auch die 
zweiten aus der natürlichen Völkergesellschaft in 
eine den Frieden garantierende den Ubergang ge- 
winnen. Das Recht der Einzelstaaten vor und 
nach diesem Übergange heißt Völkerrecht. Es 
ist ein Recht teils zum Kriege teils im Kriege teils 
nach dem Kriege. Ein Recht zum Kriege von seiten 
eines Einzelstaates besteht schon im Falle der Be- 
drohung, nicht erst im Falle tatsächlichen Angriffes 
von außen; ein solcher Krieg muß jedoch in einem 
Staate mit idealer Verfassung, wo die gesetzgebende 
Gewalt von der regierenden getrennt ist, von den 
Repräsentanten des Volkes frei beschlossen worden 
sein. Das Recht im Kriege verbietet es, den Krieg 
zu einem Straf-, Ausrottungs-- oder Unterjochungs- 
kriege zu machen, ferner tückischer Mittel, wie der 
Spioniererei, des Meuchelmordes, sich zu bedienen 
und einzelne Personen auszuplündern; nur die 
Auferlegung von Lieferungen und Kontributionen 
kann gestattet sein. Das Recht nach dem Kriege, 
d. h. im Zeitpunkte des Friedensvertrages und in 
Hinsicht auf die Folgen desselben, verbietet einen 
Antrag auf Erstattung der Kriegskosten, weil hiermit 
der Krieg des überwundenen Gegners für ungerecht 
ausgegeben werden müßte, und verbietet um so 
mehr die Herabsetzung des überwundenen Volkes
	        
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