Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1597 
zu einem bloßen Kolonialvolke oder gar dessen 
Versetzung in den Stand der Leibeigenschaft. Der 
Zweck des Krieges ist aber der Friede, und ein 
anzustrebendes Ideal der ewige Friede aller Völker. 
Das Mittel zur Erreichung dieses Ideals kann 
nicht sein ein Völkerstaat mit einer die einzelnen 
Völker beherrschenden Zwangsgewalt, da ein sol- 
cher der Gesinnung derselben widerstrebt, sondern 
nur ein freier Völkerbund, der „sich allmählich 
über alle Staaten erstrecken soll und so zum ewigen 
Frieden hinführt“ und sozusagen einen „perma- 
nenten Staatenkongreß“ bilden würde (Werke VI 
350/351; „Zum ewigen Frieden", bei Rosenkranz 
u. Schubert VII 250/251). 
Die Artikel eines solchen ewigen Friedens 
sind teils Präliminarartikel teils Definitivartikel. 
Präliminarartikel sind folgende: a) Es soll kein 
Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit 
dem geheimen Vorbehalt des Stoffes zu einem 
künftigen Kriege gemacht worden; by) es soll kein 
für sich bestehender Staat (klein oder groß, das 
gilt hier gleich viel) von einem andern Staate durch 
Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben 
werden können; c) stehende Heere sollen mit der 
Zeit ganz aufhören; d) es sollen keine Staats- 
schulden in Beziehung auf äußere Staatshändel 
gemacht werden; e) kein Staat soll sich in Ver- 
fassung und Regierung eines andern Staates ge- 
walttätig einmischen. Definitivartikel sind folgende: 
a) Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll 
republikanisch sein; b) das Völkerrecht soll auf 
einen Föderalismus freier Staaten gegründet 
sein; c) das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen 
der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt werden. 
Der durch die Definitivartikel regulierte Völker- 
bund würde ein einziges großes Friedensreich bil- 
den, in welchem jeglichem das Recht zustehen würde, 
beim Besuche fremder Länder und Völker nicht als 
Feind behandelt zu werden. Ein solches Friedens- 
reich macht die Krone des Völkerrechts aus (Rechts- 
lehre §§ 53/62; Werke VI 343/353, und „Zum 
ewigen Frieden“, bei Rosenkranz u. Schubert VII 
231/256). 
Einen umfänglichen Kommentar zu K.8s Rechts- 
lehre verfaßte J. H. Tieftrunk, Philosophische 
Untersuchungen über das Privat= u. öffentliche 
Recht zur Erläuterung u. Beurteilung der meta- 
phyfischen Anfangsgründe der Rechtslehre vom Herrn 
Prof. Imm. Kant (1797/98), während J. H. Jakob 
in den Annalen der Philosophie III (1797) 13/58 
eine beachtenswerte Kritik derselben bot. Von den 
vielen Rechtslehrern, welche naturrechtliche Theo- 
rien im Geiste der K.cschen aufstellten, obgleich 
mit mehr oder minder bedeutenden Modifikationen 
u. Abweichungen, seien genannt: Ph. Schmalz (Kol- 
lege K.s an der Univerfität zu Königsberg), Das 
Recht der Natur (1795); ders., Erklärung der Rechte 
des Menschen u. Bürgers (1798); ders., Handbuch 
der Rechtsphilosophie (1807); G. Hufeland, Lehr- 
sätze des Naturrechts (21795); C. Chr. Schmid, 
Grundriß des Naturrechts (1795); J. Chr. G. 
Schaumann, Versuch eines neuen Systems des 
natürlichen Rechts (1796); K. Fr. W. Gerstäcker, 
Kant. 
  
1598 
Metaphyfik des Rechts (1802, in der 2. Aufl. unter 
dem Titel: System der Rechtsphilosophie, 1806); 
H. Gros, Lehrbuch des Naturrechts (1802, 1841); 
W. T. Krug, Aphorismen zur Philosophie des 
Rechts 1 (1800); derf., Naturrechtliche Abhand- 
lungen (1811); J. G. Maas, Grundriß des Na- 
turrechts (1808); C. A. v. Droste-Hülshoff, Lehr- 
buch des Naturrechts (1825); J. J. Haus, Ele- 
menta doctrinae inris ecclesiastici sive iuris 
naturalis (1825); K. v. Rotteck, Lehrbuch des 
Vernunftrechts u. der Staatswissenschaften IV 
(1829/35). Ohne die gesamte K.#sche Rechtsphilo- 
sophie zu erneuern, hat jüngst Rudolf Stammler 
auf der Grundlage K. schèr Erkenntnistheorie der 
Rechts= u. der Gesellschaftsphilosophie neue Bahnen 
zu weisen unternommen; vgl. seine Schriften: über 
die Methode der geschichtlichen Rechtstheorie (1889; 
vgl. dazu G. v. Hertling im Philosophischen Jahr- 
buch, hrsg. von Gutberlet VIII (1895) 132 ff); 
Wirtschaft u. Recht nach der materialistischen Ge- 
schichtsauffassung, eine sozialpolitische Untersuchung 
(1896); Die Lehre vom richtigen Recht (1902). 
Auch sonst begegnet uns dieser Einfluß des Neu- 
kantianismus in der juristischen Literatur, z. B. bei 
e## J. J. Rousseaus Sozialphilosophie 
1 . 
— 
II. Es ist ein großes, nicht zu unterschätzendes 
Verdienst Kants, seiner Zeit den kategorischen Im- 
perativ der Pflicht ins Gewissen gerufen und dem 
Materialismus und Sensualismus der Zeitphilo- 
sophie gegenüber die erhabene Majestät des Sitten- 
gesetzes und dessen unbedingte Verpflichtungskraft 
mit Entschiedenheit und Wärme verteidigt zu haben. 
Anderseits sind aber auch die großen Gebrechen 
nicht zu verkennen, an denen die Kantsche „Meta- 
physik der Sitten“ krankt. Die „Kritik der reinen 
Vernunft" hatte in einem bloßen Phänomena- 
lismus geendet. Wie könnte von diesem aus 
eine Metaphysik der Sitten grundgelegt werden? 
Wenn die spekulative Vernunft nicht zum Anssich 
vorzudringen vermag über die Erscheinungen der 
Sinnenwelt hinaus, wie könnte die praktische als- 
dann wissen, was wir an sich sein sollen als Glieder 
einer intelligibeln Welt? Wenn die erstere nicht zu 
bestimmen vermag, ob den Prinzipien der ana- 
lytischen und synthetischen Urteile a priori, ob dem 
Prinzip des Nichtwiderspruchs und der Kausalität 
eine Anwendung zukomme über den Bereich der 
Sinneserscheinungen hinaus: wie vermag die letz- 
tere zu bestimmen, es komme ihnen eine solche zu, 
indem ich in einer von den Antrieben der Sinn- 
lichkeit völlig unabhängigen Weise so handeln soll, 
daß die Maxime meines Handelns allgemeine 
Maxime werden könnte? Wenn die erstere nicht 
zu bestimmen vermag, daß das im Gewissen sich 
ankündigende Sollen (dieses uns unbegreifliche 
Faktum) mehr sei denn ein wesenloses Phänomen, 
wie vermag es die letztere? Das Kantsche Moral- 
und das Rechtsprinzip entbehren somit einer aus- 
reichenden erkenntnistheoretischen Grundlegung. 
Sie entbehren einer solchen auch wegen des von 
der Kantschen Ethik aufgenommenen und fest- 
gehaltenen Autonomismus, der nur eine
	        
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