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zu einem bloßen Kolonialvolke oder gar dessen
Versetzung in den Stand der Leibeigenschaft. Der
Zweck des Krieges ist aber der Friede, und ein
anzustrebendes Ideal der ewige Friede aller Völker.
Das Mittel zur Erreichung dieses Ideals kann
nicht sein ein Völkerstaat mit einer die einzelnen
Völker beherrschenden Zwangsgewalt, da ein sol-
cher der Gesinnung derselben widerstrebt, sondern
nur ein freier Völkerbund, der „sich allmählich
über alle Staaten erstrecken soll und so zum ewigen
Frieden hinführt“ und sozusagen einen „perma-
nenten Staatenkongreß“ bilden würde (Werke VI
350/351; „Zum ewigen Frieden", bei Rosenkranz
u. Schubert VII 250/251).
Die Artikel eines solchen ewigen Friedens
sind teils Präliminarartikel teils Definitivartikel.
Präliminarartikel sind folgende: a) Es soll kein
Friedensschluß für einen solchen gelten, der mit
dem geheimen Vorbehalt des Stoffes zu einem
künftigen Kriege gemacht worden; by) es soll kein
für sich bestehender Staat (klein oder groß, das
gilt hier gleich viel) von einem andern Staate durch
Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung erworben
werden können; c) stehende Heere sollen mit der
Zeit ganz aufhören; d) es sollen keine Staats-
schulden in Beziehung auf äußere Staatshändel
gemacht werden; e) kein Staat soll sich in Ver-
fassung und Regierung eines andern Staates ge-
walttätig einmischen. Definitivartikel sind folgende:
a) Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat soll
republikanisch sein; b) das Völkerrecht soll auf
einen Föderalismus freier Staaten gegründet
sein; c) das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen
der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt werden.
Der durch die Definitivartikel regulierte Völker-
bund würde ein einziges großes Friedensreich bil-
den, in welchem jeglichem das Recht zustehen würde,
beim Besuche fremder Länder und Völker nicht als
Feind behandelt zu werden. Ein solches Friedens-
reich macht die Krone des Völkerrechts aus (Rechts-
lehre §§ 53/62; Werke VI 343/353, und „Zum
ewigen Frieden“, bei Rosenkranz u. Schubert VII
231/256).
Einen umfänglichen Kommentar zu K.8s Rechts-
lehre verfaßte J. H. Tieftrunk, Philosophische
Untersuchungen über das Privat= u. öffentliche
Recht zur Erläuterung u. Beurteilung der meta-
phyfischen Anfangsgründe der Rechtslehre vom Herrn
Prof. Imm. Kant (1797/98), während J. H. Jakob
in den Annalen der Philosophie III (1797) 13/58
eine beachtenswerte Kritik derselben bot. Von den
vielen Rechtslehrern, welche naturrechtliche Theo-
rien im Geiste der K.cschen aufstellten, obgleich
mit mehr oder minder bedeutenden Modifikationen
u. Abweichungen, seien genannt: Ph. Schmalz (Kol-
lege K.s an der Univerfität zu Königsberg), Das
Recht der Natur (1795); ders., Erklärung der Rechte
des Menschen u. Bürgers (1798); ders., Handbuch
der Rechtsphilosophie (1807); G. Hufeland, Lehr-
sätze des Naturrechts (21795); C. Chr. Schmid,
Grundriß des Naturrechts (1795); J. Chr. G.
Schaumann, Versuch eines neuen Systems des
natürlichen Rechts (1796); K. Fr. W. Gerstäcker,
Kant.
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Metaphyfik des Rechts (1802, in der 2. Aufl. unter
dem Titel: System der Rechtsphilosophie, 1806);
H. Gros, Lehrbuch des Naturrechts (1802, 1841);
W. T. Krug, Aphorismen zur Philosophie des
Rechts 1 (1800); derf., Naturrechtliche Abhand-
lungen (1811); J. G. Maas, Grundriß des Na-
turrechts (1808); C. A. v. Droste-Hülshoff, Lehr-
buch des Naturrechts (1825); J. J. Haus, Ele-
menta doctrinae inris ecclesiastici sive iuris
naturalis (1825); K. v. Rotteck, Lehrbuch des
Vernunftrechts u. der Staatswissenschaften IV
(1829/35). Ohne die gesamte K.#sche Rechtsphilo-
sophie zu erneuern, hat jüngst Rudolf Stammler
auf der Grundlage K. schèr Erkenntnistheorie der
Rechts= u. der Gesellschaftsphilosophie neue Bahnen
zu weisen unternommen; vgl. seine Schriften: über
die Methode der geschichtlichen Rechtstheorie (1889;
vgl. dazu G. v. Hertling im Philosophischen Jahr-
buch, hrsg. von Gutberlet VIII (1895) 132 ff);
Wirtschaft u. Recht nach der materialistischen Ge-
schichtsauffassung, eine sozialpolitische Untersuchung
(1896); Die Lehre vom richtigen Recht (1902).
Auch sonst begegnet uns dieser Einfluß des Neu-
kantianismus in der juristischen Literatur, z. B. bei
e## J. J. Rousseaus Sozialphilosophie
1 .
—
II. Es ist ein großes, nicht zu unterschätzendes
Verdienst Kants, seiner Zeit den kategorischen Im-
perativ der Pflicht ins Gewissen gerufen und dem
Materialismus und Sensualismus der Zeitphilo-
sophie gegenüber die erhabene Majestät des Sitten-
gesetzes und dessen unbedingte Verpflichtungskraft
mit Entschiedenheit und Wärme verteidigt zu haben.
Anderseits sind aber auch die großen Gebrechen
nicht zu verkennen, an denen die Kantsche „Meta-
physik der Sitten“ krankt. Die „Kritik der reinen
Vernunft" hatte in einem bloßen Phänomena-
lismus geendet. Wie könnte von diesem aus
eine Metaphysik der Sitten grundgelegt werden?
Wenn die spekulative Vernunft nicht zum Anssich
vorzudringen vermag über die Erscheinungen der
Sinnenwelt hinaus, wie könnte die praktische als-
dann wissen, was wir an sich sein sollen als Glieder
einer intelligibeln Welt? Wenn die erstere nicht zu
bestimmen vermag, ob den Prinzipien der ana-
lytischen und synthetischen Urteile a priori, ob dem
Prinzip des Nichtwiderspruchs und der Kausalität
eine Anwendung zukomme über den Bereich der
Sinneserscheinungen hinaus: wie vermag die letz-
tere zu bestimmen, es komme ihnen eine solche zu,
indem ich in einer von den Antrieben der Sinn-
lichkeit völlig unabhängigen Weise so handeln soll,
daß die Maxime meines Handelns allgemeine
Maxime werden könnte? Wenn die erstere nicht
zu bestimmen vermag, daß das im Gewissen sich
ankündigende Sollen (dieses uns unbegreifliche
Faktum) mehr sei denn ein wesenloses Phänomen,
wie vermag es die letztere? Das Kantsche Moral-
und das Rechtsprinzip entbehren somit einer aus-
reichenden erkenntnistheoretischen Grundlegung.
Sie entbehren einer solchen auch wegen des von
der Kantschen Ethik aufgenommenen und fest-
gehaltenen Autonomismus, der nur eine