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ganze Größe seines priesterlichen und bischöflichen
Charakters, die man nicht besser als durch seine
Lettres spirituelles in unvergleichlicher Zartheit
und Tiefe kennen lernt, stellten seine Bedeutung
trotz aller ihn niederbeugenden Schwierigkeiten
bald in ein so helles Licht, daß, als Bossuet, auf
den sich vergebens aller Augen in den steigenden
jansenistischen Wirren gerichtet hatten, starb
(12. April 1704), er ohne jede Widerrede als der
bedeutendste Mann im französischen Klerus dastand.
Als er am 10. Febr. 1704 seine Ordonnance et
Instruction pastorale sur le Jansénisme erließ,
begann für ihn, den Gegner des gallikanischen Ab-
solutismus, der zweitgrößte und schwerste Kampf
seines Episkopates, der erst mit dem Tode enden
sollte, der Kampf um die Rettung Frankreichs aus
der mit dem Gallikanismus sich verbündenden
grundstürzenden Häresie des Jansenismus. Es ist
hier nicht der Ort, diesen wechselvollen Kampf in
seinen Phasen zu schildern, wohl aber darauf hin-
zuweisen, daß er diesen Kampf führte zu einer Zeit,
wo ihm unerwartet unter den allerschwierigsten
Umständen in der Pflichterfüllung gegen sein Vater-
land die größten persönlichen Opfer, die helden-
mütigste Selbstverleugnung abverlangt wurde.
Durch den unbändigen Hochmut und die Selbst-
verblendung hinsichtlich seiner Macht war Lud-
wig XIV. der ständige Bedroher Europas ge-
worden. Der Spanische Erbfolgekrieg (1700 bis
1714) war gleich anfangs ein Kampf um die
französische Universalmonarchie geworden, gegen
welche sich die sog. Große Allianz (7. Sept. 1701)
gebildet hatte. Fenelon, welcher nie einen Zweifel
darüber gelassen, daß er die Kriege Ludwigs seit
dem Angriff auf Holland als durchaus ungerecht
verurteilte, ein Urteil, dem Ludwig XIV. selbst
gegen Ende seines Lebens mit der Erklärung bei-
trat, er habe den Ruhm zu sehr geliebt, suchte
durch eine Reihe von (9) Denkschriften über
die unselige Lage des Landes, welche die Her-
zoge von Chevreuse und Beauvilliers von ihm
verlangten, ihren Wünschen gerecht zu werden.
Die Denkschriften sind von höchster Bedeutung für
die Würdigung der französischen Politik vom
28. Aug. 1701 an, wo Fenelon noch einmal
versuchte, dem Kriege vorzubeugen. Der Feldzug
von 1702, die verzweifelte Lage Frankreichs
von 1710, der Nachweis der Pflicht und Not-
wendigkeit für Philipp V., die Krone Spaniens
niederzulegen (1710), die Prüfung der Rechte
Philipps V. auf diese Krone (1711), der Feldzug
von 1712 und die Notwendigkeit des Friedens-
schlusses (1712) sowie die Verteidigung der Un-
abhängigkeit Cambrais (1712) bilden den Gegen-
stand staatsmännischer Erörterungen, bei deren
Lektüre man die wahrhaft trostlose Lage vergißt,
in der sich Fénelon persönlich, zumal nach dem
Fall von Lille (16. Dez. 1708), befand, in dem
Schreckenswinter von 1709 und bei dem Vor-
dringen des Herzogs von Marlborough und des
Prinzen Eugen vor die Wälle von Cambrai
Fénelon.
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(1711). Was Fénelons Opfermut und Liebe in
der Hingabe an seine entsetzlich heimgesuchten
Diözesanen hier leistete, ist unbegreiflich groß und
herrlich und erzwang die Huldigung von Freund
und Feind, namentlich die Marlboroughs. Und
doch lag während dieser ganzen Zeit Fenelon noch
eine weitere, für sein Herz vielleicht noch größere
Sorge ob.
Gleich mit Beginn des Spanischen Erbfolge-
kriegs überrascht die Wiederanknüpfung der, vor-
ab freilich geheim, auf Ummegen sich fortsetzenden
Korrespondenz mit dem Herzog von Burgund,
die man als den Beginn einer zweiten Er-
ziehung des Dauphin bezeichnen kann.
Vorab in Flandern (1702), dann in Deutschland
(1703) ist der Dauphin Gegenstand der höchsten
Lobeserhebungen; Fénelon (Corresp. u. 41, 46,
50) warnt ihn vor Schmeichlern und mahnt ihn,
zumal bei Hofe bescheiden, fest, zurückhaltend zu
sein. Als im Jahr 1708 die schweren Nieder-
lagen, die Fehler sich einstellen, für welche der
Herzog von Burgund im Stab des brutalen Ven-
döme mitverantwortlich ist, für die Niederlage bei
Oudenaarde und die Eroberung von Lille durch
Marlborough, wird dem Prinzen mit unumwun-
denem Freimut alles mitgeteilt, was „man sagt"“
über ihn, den schwächlichen, furchtsamen und skru-
pulösen Zögling eines dem König und dem
Staatsinteresse entfremdeten Erziehers (Corresp.
n. 90, 94, 96). Ohne diese Insinuation auch
nur mit einer Silbe zu berücksichtigen, fordert
Fénelon den Prinzen auf zur Entschlossenheit,
Kühnheit, Tatkraft, Ausdauer im Armeedienst
(Corresp. n. 83, 84), zum Freimut und zur Er-
gebenheit bei der Verantwortung vor dem König
(Corresp. n. 97). Daß Fenelon nicht vergaß,
in dem Prinzen die christliche Tugend zu pflegen,
„klein zu sein unter der Hand Gottes, aber groß
in den Augen der Menschen zu werden“ (CTorresp.
Mn. 132), versteht sich von selbst. Doch mit alle-
dem tat er sich in der Liebe zu dem königlichen
Zögling nicht genug.
Nach dem unglücklichen Feldzug von 1708,
als der Prinz bei Hofe weilte, verfaßte Fénelon
für ihn in Cambrai die vielbesprochene „Ge-
wissenserforschung über die Pflichterfüllung
der Könige“ (Examen de conscience sur
les devoirs de la Royauté), eine Schrift von
solcher Kraft in Form und Inhalt, daß Herder
erklärte, wenn diese Ratschläge befolgt würden,
würde jede Revolution unmöglich werden; alle
Väter des Volkes sollten die 37 Artikel morgens
und abends zur Betrachtung wählen. Ganz
anders als im Télémaque wenden sich die Fragen
der Gewissenserforschung direkt, ohne Umschweife,
an die unerbittliche Selbstverantwortung vor Gott
und dem Volke hinsichtlich der dreifachen könig-
lichen Pflichterfüllung der unerläßlichen, uner-
müdlichen Selbstunterrichtung, des den Unter-
tanen schuldigen Beispiels, der alle Regierungs-
handlungen durchdringenden und leitenden Ge-