Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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rechtigkeit. Der Vorwurf hinsichtlich der stets 
wiederkehrenden Form der Gewissenserforschung, 
des eintönigen Fragens an den Prinzen: „Haben 
Sie getan?“" „Haben Sie unterlassen?“ zeugt 
von ebenso großer Unwissenheit wie Leichtfertig- 
keit. Was regt schärfer zum Nachdenken, zum ehr- 
lichen, unumwundenen Urteil, zur ungefälschten 
Rechenschaftsablegung an, zumal bei einem christ- 
lichen Fürsten? Kleinliches Vorurteil, die Politik 
der Moral, dem christlichen Lebensgesetz in solch 
aufdringlicher Weise unterzuordnen! rufen andere. 
Aber hat etwa die Gewissenserforschung über 
„königliche Skandale“ etwas Kleinliches an sich? 
„Die Untertanen sind schlimme Nachahmer ihrer 
Fürsten, zumal in Dingen, die ihren Leiden- 
schaften schmeicheln. Haben Sie ihnen das Bei- 
spiel von unehrenhafter und verbrecherischer Liebe 
gegeben? Wenn Sie es getan, hat Ihre Autori- 
tät die Infamie zu Ehren gebracht, die Schranke 
der Scham und Ehrbarkeit niedergebrochen, dem 
Laster zum Triumph über die Schamlosigkeit ver- 
holfen; Sie haben allen Ihren Untertanen die 
Lehre gegeben, nicht mehr zu erröten über das, 
was schmachvoll ist: verderbnisvolle Lehre, die sie 
nie vergessen werden!“ Ist es klein, dem zukünf- 
tigen König den Rat zu geben, vor allen Dingen 
sich mit der Erkenntnis des Gesetzes Gottes zu 
ersüllen und dann mit den Gesetzen seines Volkes, 
nicht das Beispiel des Luxus zu geben, vor allem 
keinen Krieg aus rein persönlichem Interesse auf 
Kosten seiner Untertanen zu führen? Aus dem 
Vorwurf der „Utopie"“ der Unterordnung der 
Politik unter die Moral — abgesehen von Ein- 
zelheiten der Fragestellung und ihrer Fassung, die 
heute, unter ganz andern Verhältnissen, weniger 
verständlich sind — spricht Abneigung und Haß 
gegen die souveräne Wahrheit und Hoheit des 
Christentums in Fragen der Politik. Hinsichtlich 
der „Utopie" sei an die Denkschrift von 1710 an 
den Herzog von Chevreuse (Corresp. n. 104) 
erinnert, worin Fenelon genau in Ubereinstim- 
mung mit dem anonymen Brief nachweist, daß 
es sich noch immer um denselben Ruhmesschwindel, 
dasselbe Despotentum, denselben Hochmut und 
dieselbe halbe, geschminkte Frömmigkeit handle 
wie früher. Dem trat Fenelon mit dem obersten 
Grundsatz der Gewissensleitung des Prinzen ent- 
gegen: „Sie werden einst nach dem Evangelium 
gerichtet werden, wie der geringste Ihrer Unter- 
tanen.“ Als das Examen de conscience 1734 
zum erstenmal gedruckt, aber auf Befehl des Mi- 
nisteriums sofort konfisziert und vernichtet wurde, 
war ein Exemplar in die Hände Ludwigs XVI. 
gefallen, dieses tugendsamen Sohnes des laster- 
haften Ludwig XV., des unglücklichen, entsetzlich 
korrumpierten letzten Sohnes des Herzogs von 
Burgund. Der Herzog von Beauvilliers hatte 
die Schrift heimlich gerettet, sonst wäre sie wie die 
übrigen Papiere und Briefe Fenelons nach dem 
Tod des Herzogs verbrannt worden. Als Lud- 
wig XVI. dieselbe durch Abbe Toldini veröffent- 
Fénelon. 
  
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lichen ließ, erschien sie mit einem Supplement: 
üÜber die Notwendigkeit, sowohl Defensiv= als 
Offensiv-Allianzen gegen eine Fremdmacht zu 
chließen, welche die Universalmonarchie 
erstrebt. „Alles was das Gleichgewicht umstürzt, 
was den entscheidenden Anstoß für die Universal- 
monarchie gibt, kann nicht gerecht sein“, lautete 
Fenelons Entscheidung. Und dem Herzog von 
Burgund schärft er als Fund talansch g 
des christlichen Völkerrechts gegenüber der scham- 
losen Mißachtung desselben durch seine Umgebung 
folgende Grundsätze ein: „Wer einmal sich her- 
ausnimmt, unter welchem Vorwand es sei, die 
Friedensverträge zu erschüttern, wird nie 
um Rechtsunterscheidungen verlegen sein, um jeden 
Tausch, jede Zession, Schenkung oder Vergütung 
und andere Verträge für nichtig zu erklären, auf 
denen die Sicherheit und der Friede der Welt be- 
ruht; der Krieg wird alsdann ein Übel, für das 
es kein Heilmittel mehr gibt. Um der Welt eine 
gewisse Festigkeit, der Nation eine gewisse Sicher- 
heit ihres Lebens zu geben, muß man zwei Punkte 
beachten als die beiden Pole, um welche sich das 
ganze öffentliche Leben dreht: einmal ist jeder 
Friedensvertrag zwischen zwei Fürsten in Bezug 
auf sie unverletzlich und immer in dem natür- 
lichen und durch die unmittelbare Ausführung er- 
klärten Sinn aufzufassen; weiterhin wird jeder 
friedliche und ununterbrochene Besitz seit der Zeit, 
welche die Jurisprudenz für die wenigst begün- 
stigten Verjährungen fordert, für den, welcher im 
Besitze ist, gewisses und berechtigtes Eigentum, 
welche Mängel demselben auch bei seinem Ursprung 
ankleben mochten. Ohne Beachtung dieser beiden 
Normen gibt es für das Menschengeschlecht keine 
Ruhe und keine Sicherheit mehr“ (Examen 
art. 36). 
Durchaus in Übereinstimmung mit diesen die 
äußere Politik festlegenden Grundsätzen stehen die 
um diese Zeit von einem schottischen Stuartisten, 
dem im Hause Fenelons weilenden Konvertiten 
Ramsay, aufgezeichneten Außerungen Fenelons 
über die innere Staats= und Regie- 
rungspolitik. In den Jahren 1709 und 
1710 weilte Jakob III., der Prätendent, durch 
dessen Anerkennung (18. Sept. 1701) Lud- 
wig XIV. die Brandfackel der Zwietracht in das 
englische Volk geworfen, auf dem flandrischen 
Kriegsschauplatz und suchte bei Fenelon Rat und 
Belehrung. Ramsay, der Freund Fenelons und 
Zeuge jener intimen Unterredungen, zeichnete die- 
selben auf und veröffentlichte sie 1714 im Haag 
unter dem Titel Essai de Politique ou Ton 
traite de Torigine, des droits, des bornes, 
des différentes formes de la souveraineté, 
selon les principes de Fauteur du Télé- 
maque, bekannter unter dem Titel: Essai sur 
le gouvernement eivil (zuerst London 1721). 
Ein größerer Gegensatz gegen die Bossuetsche 
Staatstheorie, die noch allherrschend war, ist 
kaum denkbar, und ein schwereres und früheres 
–½ 
 
	        
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