Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

159 
der gemeinen Soldaten, die Pensionierung der- 
selben in ihrer Heimatgemeinde statt der damaligen 
Unterbringung in den militärischen Invaliden= 
kasernen. Mit größter Entschiedenheit will Fenelon 
die Allherrschaft der Intendanten, der „dreißig 
Könige Frankreichs“, und damit das schlimmste 
Werkzeug der seit Mazarin eingeführten und seither 
raffiniert ausgebildeten Zentralisationsmaschine 
des Landes beseitigt sehen. In den Provinzen 
soll eine ständische, populäre Selbstverwal- 
tung unter königlicher Aufsicht, in besondern 
Fällen durch sog. Missi Dominici, eingeführt 
werden. In der Justiz verlangt Fenelon die 
Zuteilung anständiger, ausreichender Gehälter, 
damit die Kosten des Gerichtswesens nicht mehr 
ganz auf die Rechtsuchenden abgeschoben würden, 
dazu weniger Richter, weniger Gesetze, ein besseres 
allgemeines Gesetzbuch. Auch für den Kauf- 
manns= und Handelsstand verlangt er 
korporative Organisation und Selbstverwaltung; 
er fordert ein Bureau von Kaufleuten, welches von 
den General= und Provinzialständen wie von den 
Ministern in allen Fragen des Handels und Ver- 
kehrs zu befragen sei; er empfiehlt die Errichtung 
von Kassen und Leihanstalten, ähnlich 
unsern heutigen Darlehens= und Vorschußkassen, 
und weist auf die Einführung einerBVermögens- 
zensur für solche hin, welche über den (recht- 
mäßigen) Gewinn hinaus durch Umgehung der 
Gesetze sich unrechtmäßig bereicherten. Obschon 
ein entschlossener Gegner der gallikanischen „Ser- 
vituten“, war er ein Anhänger des mehr autonomen 
Kirchenregiments: kein Staatskirchentum 
mehr, Unabhängigkeit der beiden großen Ge- 
walten, Kirche und Staat, voneinander und doch 
ein für beide förderliches Zusammenwirken zum 
Wohl des Ganzen. 
Wer will leugnen, daß uns hier nicht nur als 
möglich und wahrscheinlich, sondern auch nach rein 
menschlichem Ermessen nahegerückt, in vollem Um- 
fang jene große christliche und friedvolle Staats- 
reform vor Augen steht, welche die Revolution 
des Jahres 1789 unmöglich machen konnte? Daß 
der antichristliche Geist sich erbittert, wenn ihm 
diese Erinnerungen vorgeführt werden, ist ja er- 
gesetzte falsche Haltung des Kardinals schlug Fi- 
klärlich; aber wird die Tatsache darum weniger 
bedeutsam, daß dem Thronfolger nur noch kaum 
am 18. Febr. 1712 fast jäh dahinstarb, rief selbst 
der harte Saint-Simon: „Frankreich steht unter 
der letzten, schwersten Züchtigung: Gott ließ das 
Land einen Fürsten schauen, den es nicht ver- 
diente.“ Für Fénelon war damit das helle Licht 
der Zukunft erloschen; von seinem Schmerz drang 
nichts nach außen. „Gott“, schrieb er am 27. Febr. 
1712 an den Herzog von Chevreuse, „hat uns all 
unsere Hoffnung für die Kirche und den Staat 
genommen. Er hatte diesen jungen Fürsten ge- 
bildet, er hat ihn für die größten Güter vorberei- 
Fénelon. 
  
  
160 
bald zerstört. Ich bin niedergebeugt vor Ent- 
setzen; ich bin todkrank vor Ergriffenheit, krank, 
ohne krank zu sein.“ Das ist der einzige Schmer- 
zensruf, der uns begegnet. Dann beschäftigt sich 
der Brief mit der Sorge um den Frieden, mit der 
Lage des Königs, der Kirche, Frankreichs. So 
handelt, schreibt, denkt Fnelon in einem der 
schwersten Augenblicke seines Lebens. „Der Ehr- 
geiz schwimmt überall oben“, ruft Saint-Simon, 
und die Epigonen von heute haben noch kein an- 
deres Wort gefunden. 
Aber nicht Ehrgeiz, sondern Pflichterfüllung 
im vollen Sinn des Wortes erfüllte Fenelons 
letzte Anstrengungen. Man lese den letzten 
Briefwechsel mit dem Herzog von Chevreuse nach 
dem Tode des Großdauphin über die Sicherstel- 
lung der höchsten Staatsinteressen beim Ableben 
des Königs, die Regentschaft, die ersten Maß- 
nahmen; man baachte seine Beurteilung des un- 
seligen Philippe d'Orléans, der sich auf Schleich- 
wegen in den Vordergrund drängte und dem er 
noch, wahrscheinlich um ihn von den Wegen des 
Atheismus und entsetzlicher Verdorbenheit zu 
retten, seine ersten (3) Lettres sur divers sujets 
de métaphysique et de religion zusandte. 
Man überblicke seine apologetischen Schriften, die 
er gegen die von England und Holland (Toland 
I16961, Basnage, Leclerc und Bayle (16971) 
unaufhaltsam hereindrängende Flut der rohesten 
Spöttereien, des unwissendsten Unglaubens rich- 
tete. Man denke an die unvergleichliche Lettre de 
I. Académie (1713), die heute noch die Akademie 
beschäftigt (Sprachreform Leygues). Man ver- 
folge besonders die letzten großen Anstrengungen 
gegen den Jansenismus und die unselige, das 
Land bis an den Rand des Schismas drängende 
Haltung des Pariser Kardinals de Noailles. Am 
25. Febr. 1714 war der diese Haltung beschöni- 
gende Hirtenbrief des Kardinals ergangen. Aller 
Augen waren auf Fenelon gerichtet, als dieser am 
9. Juni 1714 in zwei Hirtenschreiben (eines da- 
von an den durch den Utrechter Vertrag zu Holland 
geschlagenen Teil seiner Diözese) die Bulle Uni- 
genitus, diesen letzten feierlichen Akt des Ponti- 
fikates Klemens' XI., publizierte. Gegen die fort- 
nelon die Berufung eines Nationalkonzils durch 
drei Monate blieben, um über diese Aufgaben, 
seiner Reformtätigkeit nachzudenken? Als derselbe 
1 
  
den Kardinal vor. Als man Fenelon aufforderte, 
mit seinem Ansehen und seinem Namen gegen die 
Gallikaner und den Kardinal aufzutreten, lehnte 
er ab mit den Worten: des Kardinals eigenster 
Ruhm und höchstes Verdienst vor Gott und den 
Menschen müsse es sein, der Kirche den Frieden 
zu schenken. Durch diese kluge Selbstbescheidung 
wurde das Schisma vermieden. Wie in der Vor- 
ahnung seines Endes begab sich Fenelon auf Visi- 
tationsreisen. Durch einen Sturz aus dem Wagen 
verletzte er sich schwer und wurde nach Cambrai 
gebracht. Am 5. Jan. 1715 kündigten sich die 
Todesfieber an. Am 6. Jan., nach dem Empfang 
tet, er hat ihn der Welt gezeigt; er hat ihn als= der Sterbsakramente, diktierte und unterzeichnete
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.