Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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bändigt und der Vernunft dienstbar macht, ist 
darum die im Gewissen sich ankündigende sittliche 
Pflicht. Das ist die Freiheit, die Fichte fordert; 
nicht eine antinomistische Freiheit als selbstsüchtige 
oder genialische Willkür des sinnlichen Indivi- 
duums, wie nur ein völliges Mißverständnis ihm 
beilegen kann, sondern die Freiheit als tatkräftige 
Entfaltung der allgemeinen Vernunftnatur im Ich. 
Daß diese Freiheit nicht als geniale Willkür 
gemeint war, wie einige Romantiker (man denke 
an Fr. Schlegels „Lucinde") sie auslegten, zeigt 
sofort die folgende Schrift: „Uber den Grund 
unseres Glaubens an eine göttliche Weltregie- 
rung“ (1798), die freilich nach anderer Seite hin 
wegen der Bekämpfung des bheistischen Gottes- 
gedankens zugunsten einer pantheistischen Welt- 
auffassung einen gewaltigen Sturm erregen mußte. 
Fichte nahm darin zu einem Aussatz Forbergs, der 
in dem von Fichte selbst und Niethammer heraus- 
gegebenen „Philosophischen Journal“ erschien, 
Stellung, indem er einerseits dem skeptischen Atheis- 
mus Forbergs und seiner rationalistischen Identi- 
fizierung von Religion und Moralität entgegen- 
trat, anderseits aber auch die theistische Begründung 
des Gottesglaubens ablehnte, die von der Sinnen- 
welt ausgehe und nur zu einer anthropomorphisti- 
schen Gottesvorstellung führe. Nach Fichte selbst be- 
ruht die Religion als etwas über diebloße Moralität 
Hinausgehendes auf dem ursprünglichen Glauben, 
daß die moralische Tat nicht nur etwas Gutes im 
Reich der Vernunft sei, sondern auch als Hand- 
lung in der Sinnenwelt zum Guten führen werde; 
es sei ein im tiefsten Grund aller Individuen le- 
bender heiliger Wille, durch den auch die äußeren 
Wirkungen in der Welt, welche von dem morali- 
schen Handeln derselben ausgehen, zusammenstim- 
mend sich gestalten, so daß das Gute zuletzt auch 
in der Erscheinung zum Sieg gelange. Diese nicht 
als Abstraktion, sondern als höchste reale Potenz 
gedachte „moralische Weltordnung“ ist ihm in 
pantheistischer Weise Gott selbst. 
Es kann hier nicht auf die Geschichte der an 
diese Schrift sich anschließenden Streitigkeiten ein- 
gegangen werden, die zum Weggang Fichtes von 
Jena nach Berlin führten (1799). In Berlin tritt 
Fichte dem romantischen Kreise näher und wendet 
sich völlig von der „Aufklärung“ des 18. Jahrh. 
ab, der er innerlich schon mehr und mehr entfrem- 
det war. Im „Geschlossenen Handelsstaat" (1800) 
erweitert er seine frühere engere Auffassung vom 
Staat; in den Vorlesungen über „Die Grund- 
züge des gegenwärtigen Zeitalters“ (Winter 1804 
bis 1805, hrsg. 1806) entwirft er seine Philo- 
sophie der Geschichte und richtet mahnende Worte 
an seine Zeit, die in Selbstsucht verkommen sei 
und ohne gänzliche Wiedergeburt untergehen müsse. 
Nach vorübergehendem Aufenthalt in Erlangen 
(1805) nach Berlin zurückgekehrt, entwickelt er 
dort seine neue Religionslehre, auf welche „Die 
Bestimmung des Menschen“ (1800) schon leise 
hingedeutet hatte, in der „Anweisung zum seligen 
Fichte. 
  
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Leben“ (1806). Die Abwendung von der ratio- 
nalistischen Fassung der Religion als bloßer Mo- 
ral ist hier ganz vollzogen und hat einer nicht 
selten nur mühsam zu entwirrenden pantheistischen 
Mystik Platz gemacht. Aus dem Urgrund des gött- 
lichen Seins geht dessen Form, das Leben, durch 
Natur und Menschengeist; Seligkeit ist die Er- 
fassung der Einheit von göttlichem und mensch- 
lichem Leben. Im Evangelium Johannis im Ge- 
gensatz zum paulinischen Christentum findet Fichte 
diese Lehre ausgesprochen; in der historischen Per- 
son Jesu sei jenes Einheitsbewußtsein zuerst in 
voller Klarheit lebendig gewesen. 
Standen noch die „Grundzüge des gegenwär- 
tigen Zeitalters“ auf dem Standpunkt des Welt- 
bürgertums, nach welchem „das Vaterland des 
wahrhaft ausgebildeten Europäers in jedem Zeit- 
alter derjenige Staat in Europa ist, der auf der 
Höhe der Kultur steht“ (VII 212), so erfährt Fich- 
tes Denkweise eine völlige Umwandlung durch die 
Not des Vaterlandes, das durch die napoleonische 
Invasion aufs tiefste erniedrigt ist. Vor dem Ein- 
rücken des Siegers in Berlin verläßt er die Stadt 
(1806), zieht nach Königsberg, Memel und Kopen- 
hagen, kehrt dann nach Berlin zurück, wo er im 
Winter 1807/08 seine „Reden an die deutsche 
Nation" hält. Für die ruhig abwägende objektive 
Betrachtung haben diese flammenden Weckrufe nicht 
selten etwas Exaltiertes und chauvinistisch Über- 
spanntes; als Denkmal persönlichen Mutes und 
als feurige Mahnungen zur Erhebung aus der Er- 
niedrigung, zur männlichen Selbstbesinnung und 
zur Hingebung für eine herbeizuführende schönere 
Zukunft wirken sie noch jetzt durch ihren heiligen 
Zorn wie durch ihren aus tiefster Seele hervor- 
quellenden Prophetenton ergreifend. Weniger die 
ungeschichtlichen Phantasien über die Stellung der 
Deutschen als des einzigen Urvolks mit ursprüng- 
licher Sprache und ursprünglichem Denken, das 
darum allein, wenn es selbst gesunde, auch die 
Genesung der verworfenen Welt herbeiführen 
werde, als die Gedanken über „Nationalerzie- 
hung“, d. h. eine Erziehung, die nicht nur den 
bevorzugten Klassen, sondern der ganzen Nation 
zugute kommen und in allen die sittlich selbstän- 
dige und wahrhaft religiöse Natur erwecken soll. 
sind, trotz vieler Verkehrtheiten und Seltsamkeiten, 
die mit dem tief und richtig Empfundenen sich 
mengen, von dauernder Bedeutung gewesen. In 
Pestalozzi sieht Fichte das Vorbild eines wahren 
Volkserziehers. 
Fichte, der in seinen verschiedenen Vorlesungen 
„Über die Bestimmung des Gelehrten“ und anders- 
wo (IV 248 f) dem das Bestehende erhaltenden 
Zwangsstaat und den vom Symbol ausgehenden 
Kirchendienern die den Fortschritt zur reinen Ver- 
nunftordnung pflegende „Republik der Gelehrten“ 
(das „gelehrte Publikum") gegenüberstellt, trug sich 
viel mit Plänen zur Reorganisation der Universi- 
täten, die freilich ebenso einseitig und dem Leben 
entfremdet waren, wie vieles in seiner eigenwilligen
	        
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