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geschichte des altisraelitischen Volkes lassen sich
unverkennbare Züge des Kapitalismus nachweisen
(vgl. d. Art. Israeliten). Sobald man das Vor-
wiegen der Geldherrschaft, die feindselige Tren-
nung von Besitz und Arbeit und die Ausbeutung
dieser durch jenen als Kapitalismus faßt, ist der-
selbe nicht erst von heute oder gestern, sondern
ein bereits in der antiken Wirtschaft bekanntes
Phänomen.
4. Sozialistische Kritik des Kapi-
talismus. An den Mißständen, die mit dem
Kapitalismus verknüpft sind, hat der Sozialis-
mus die schärfste Kritik geübt. Nicht als ob die-
selbe in allen Teilen völlig einwandfrei wäre,
aber im Aufdecken der Schwächen und Mängel,
der Härten und Ungerechtigkeiten des kapitalisti-
schen Systems ist der Soziälismus mit solcher
Gründlichkeit und solchem Spürsinne zu Werke
gegangen, daß ihm hierin niemand den Nang
streitig machen kann. Er hat in diesem negativ
kritischen Teile seiner Arbeit entschieden mehr
Glück gehabt als in dem positiven Aufbau eines
sozialistischen Wirtschaftssystems. Es ist vor allem
Karl Marx (s. d. Art.) gewesen, der die Ana-
lyse der kapitalistischen Produktion und Güter-
verteilung sowie die Bloßlegung der sie beherr-
schenden Gesetze versucht hat. Es war seine wissen-
schaftliche Lebensaufgabe, den Beweis zu ver-
suchen, daß die Bildung und Mehrung des
Kapitals nur auf Kosten des Arbeiters erfolgen
kann. Eine eingehendere Darlegung der Marxi-
stischen Kritik des Kapitalismus findet sich in den
Art. Marx und Sozialismus. Hier genüge es,
die Hauptgedanken flüchtig zu skizzieren. Marx
bedient sich in seiner Kritik der kapitalistischen
Volkswirtschaft einer Waffe, die als die bedeu-
tendste Errungenschaft der klassischen National-
ökonomie gefeiert wurde, der Lehre nämlich, daß
alle Werte, wenigstens alle Tauschwerte, in letzter
Linie auf menschliche Arbeit zurückzuführen seien.
Wie bei jeder Ware müsse man auch bei der Arbeits-
kraft Gebrauchswert und Tauschwert unterscheiden.
Ersterer sei die Nutzung, die der Kapitalist davon
machen könne, letzterer das Quantum Unterhalts-
mittel, das zur Erhaltung und Fortpflanzung der
Arbeitskraft notwendig sei. Marx sagt: „Der
Wert (Tauschwert) der Arbeitskraft und ihre Ver-
wertung im Arbeitsprozeß (ihr Gebrauchswert)
sind also zwei verschiedene Größen. Diese Wert-
differenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die
Arbeitskraft kaufte“ (Kapital 1 156). Der
Kapitalist läßt einfach den Arbeiter länger ar-
beiten, als notwendig wäre, um die Unterhalts-
mittel zu produzieren. „Dieses Plus nun,
das der Kapitalist sich aneignet, das, vom Ar-
beiter geschaffen, eine Beute des Kapitalisten
wird, ist der Mehrwert... Die Aneignung
unbezahlter Arbeit ist das Funda-
mentalprinzip der kapitalistischen
Produktionsweise, deren Dasein somit
von der Ausbeutung unzertrennlich ist“ (Adler,
Kapital usw.
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Sozialismus, im Handwörterb. der Staatswissen-
schaften V 779).
Ob diese Deduktion das Rechte trifft, bleibe
hier dahingestellt. Aber man sieht es dem un-
gemein scharfsinnig entwickelten Gedankengange
schon auf den ersten Blick an, daß er von Anfang
an darauf angelegt war, den Mehrwert, den Ka-
pitalprofit als eine Folge der Ausbeutung der
Arbeit durch das Kapital erscheinen zu lassen.
Der Kapitalismus, oder was für den Sozialis-
mus gleichbedeutend ist, das im Privateigentum
stehende Kapital, erscheint dem Sozialismus als
der Inbegriff aller Ubel: nicht bloß des wirtschaft-
lichen Bankrotts, dem die Gesellschaft unaufhalt-
sam entgegeneile, sondern auch der furchtbarsten
sittlichen Korruption, die gemäß der materialisti-
schen Geschichtsphilosophie ja nur der ideologische
Reflex der kapitalistischen Produktionsweise ist.
Der Kapitalismus ist es, welcher das haarsträu-
bende Elend der Arbeitermassen, den strotzenden
Reichtum einer immer sich verringernden Anzahl
von Kapitalmagnaten, die ganze sittliche Ver-
dorbenheit, die der Sozialismus als eine unheil-
bare faulende Wunde am kapitalistischen Gesell-
schaftskörper bezeichnet, die Prostitution der Töchter
des arbeitenden Volkes, das Sybaritentum der
Reichen, den Zerfall des Familienlebens in der
Arbeiterwelt im Gefolge hat. Von einer kapitalisti-
schen Wirtschaftsordnung kann der sozialistischen
Kritik zufolge nicht die Rede sein. Nicht Ordnung
und planvolle Leitung, sondern die reinste „An-
archie“ beherrscht die kapitalistische Produktion.
Der Kapitalismus ist es, der die schnödeste Ge-
winnsucht, die wilde, sich überstürzende Spekulation,
die übertriebene Produktion und damit das unsäg-
liche Elend der Handelskrisen verschuldet — lauter
unhaltbare Übelstände, die im weiteren Verlaufe
den Zusammenbruch zahlreicher Unternehmungen,
die Arbeitslosigkeit von Tausenden hungerüder
Arbeiter, die immer zunehmende Konzentration
des großen Besitzes herbeiführen, bis endlich, wie
Marx mit prophetischem Blicke verkündet, jene
große Stunde schlägt, wo die bisher Expropriierten
ihre Ausbeuter expropriieren, wo der durch und
durch morsche Kapitalismus ins Grab sinkt und
endlich der Kommunismus als der einzige Befreier
der Menschheit auf der Bildfläche erscheint.
5. Würdigung der sozialistischen
Kritik des Kapitalismus. Eine Wider-
legung im einzelnen bleibt den betreffenden Ar-
tikeln (Eigentum, Sozialismus usw.) überlassen.
Hier sollen nur die bedeutsamsten Punkte heraus-
gehoben werden. Der Sozialismus ist in der
verhängnisvollen Verwechslung des Privat-
eigentums und des Kapitalismus be-
fangen. Alle Übel, die sich mit größerem oder ge-
ringerem Rechte am Kapitalismus aussetzen lassen,
werden ohne weiteres dem Privateigentume zur
Last gelegt, während doch gewiß eine von christ-
lichem Geiste getragene Privateigentumsordnung
der entschiedenste Widerpart des Kapitalismus