Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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geschichte des altisraelitischen Volkes lassen sich 
unverkennbare Züge des Kapitalismus nachweisen 
(vgl. d. Art. Israeliten). Sobald man das Vor- 
wiegen der Geldherrschaft, die feindselige Tren- 
nung von Besitz und Arbeit und die Ausbeutung 
dieser durch jenen als Kapitalismus faßt, ist der- 
selbe nicht erst von heute oder gestern, sondern 
ein bereits in der antiken Wirtschaft bekanntes 
Phänomen. 
4. Sozialistische Kritik des Kapi- 
talismus. An den Mißständen, die mit dem 
Kapitalismus verknüpft sind, hat der Sozialis- 
mus die schärfste Kritik geübt. Nicht als ob die- 
selbe in allen Teilen völlig einwandfrei wäre, 
aber im Aufdecken der Schwächen und Mängel, 
der Härten und Ungerechtigkeiten des kapitalisti- 
schen Systems ist der Soziälismus mit solcher 
Gründlichkeit und solchem Spürsinne zu Werke 
gegangen, daß ihm hierin niemand den Nang 
streitig machen kann. Er hat in diesem negativ 
kritischen Teile seiner Arbeit entschieden mehr 
Glück gehabt als in dem positiven Aufbau eines 
sozialistischen Wirtschaftssystems. Es ist vor allem 
Karl Marx (s. d. Art.) gewesen, der die Ana- 
lyse der kapitalistischen Produktion und Güter- 
verteilung sowie die Bloßlegung der sie beherr- 
schenden Gesetze versucht hat. Es war seine wissen- 
schaftliche Lebensaufgabe, den Beweis zu ver- 
suchen, daß die Bildung und Mehrung des 
Kapitals nur auf Kosten des Arbeiters erfolgen 
kann. Eine eingehendere Darlegung der Marxi- 
stischen Kritik des Kapitalismus findet sich in den 
Art. Marx und Sozialismus. Hier genüge es, 
die Hauptgedanken flüchtig zu skizzieren. Marx 
bedient sich in seiner Kritik der kapitalistischen 
Volkswirtschaft einer Waffe, die als die bedeu- 
tendste Errungenschaft der klassischen National- 
ökonomie gefeiert wurde, der Lehre nämlich, daß 
alle Werte, wenigstens alle Tauschwerte, in letzter 
Linie auf menschliche Arbeit zurückzuführen seien. 
Wie bei jeder Ware müsse man auch bei der Arbeits- 
kraft Gebrauchswert und Tauschwert unterscheiden. 
Ersterer sei die Nutzung, die der Kapitalist davon 
machen könne, letzterer das Quantum Unterhalts- 
mittel, das zur Erhaltung und Fortpflanzung der 
Arbeitskraft notwendig sei. Marx sagt: „Der 
Wert (Tauschwert) der Arbeitskraft und ihre Ver- 
wertung im Arbeitsprozeß (ihr Gebrauchswert) 
sind also zwei verschiedene Größen. Diese Wert- 
differenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die 
Arbeitskraft kaufte“ (Kapital 1 156). Der 
Kapitalist läßt einfach den Arbeiter länger ar- 
beiten, als notwendig wäre, um die Unterhalts- 
mittel zu produzieren. „Dieses Plus nun, 
das der Kapitalist sich aneignet, das, vom Ar- 
beiter geschaffen, eine Beute des Kapitalisten 
wird, ist der Mehrwert... Die Aneignung 
unbezahlter Arbeit ist das Funda- 
mentalprinzip der kapitalistischen 
Produktionsweise, deren Dasein somit 
von der Ausbeutung unzertrennlich ist“ (Adler, 
Kapital usw. 
  
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Sozialismus, im Handwörterb. der Staatswissen- 
schaften V 779). 
Ob diese Deduktion das Rechte trifft, bleibe 
hier dahingestellt. Aber man sieht es dem un- 
gemein scharfsinnig entwickelten Gedankengange 
schon auf den ersten Blick an, daß er von Anfang 
an darauf angelegt war, den Mehrwert, den Ka- 
pitalprofit als eine Folge der Ausbeutung der 
Arbeit durch das Kapital erscheinen zu lassen. 
Der Kapitalismus, oder was für den Sozialis- 
mus gleichbedeutend ist, das im Privateigentum 
stehende Kapital, erscheint dem Sozialismus als 
der Inbegriff aller Ubel: nicht bloß des wirtschaft- 
lichen Bankrotts, dem die Gesellschaft unaufhalt- 
sam entgegeneile, sondern auch der furchtbarsten 
sittlichen Korruption, die gemäß der materialisti- 
schen Geschichtsphilosophie ja nur der ideologische 
Reflex der kapitalistischen Produktionsweise ist. 
Der Kapitalismus ist es, welcher das haarsträu- 
bende Elend der Arbeitermassen, den strotzenden 
Reichtum einer immer sich verringernden Anzahl 
von Kapitalmagnaten, die ganze sittliche Ver- 
dorbenheit, die der Sozialismus als eine unheil- 
bare faulende Wunde am kapitalistischen Gesell- 
schaftskörper bezeichnet, die Prostitution der Töchter 
des arbeitenden Volkes, das Sybaritentum der 
Reichen, den Zerfall des Familienlebens in der 
Arbeiterwelt im Gefolge hat. Von einer kapitalisti- 
schen Wirtschaftsordnung kann der sozialistischen 
Kritik zufolge nicht die Rede sein. Nicht Ordnung 
und planvolle Leitung, sondern die reinste „An- 
archie“ beherrscht die kapitalistische Produktion. 
Der Kapitalismus ist es, der die schnödeste Ge- 
winnsucht, die wilde, sich überstürzende Spekulation, 
die übertriebene Produktion und damit das unsäg- 
liche Elend der Handelskrisen verschuldet — lauter 
unhaltbare Übelstände, die im weiteren Verlaufe 
den Zusammenbruch zahlreicher Unternehmungen, 
die Arbeitslosigkeit von Tausenden hungerüder 
Arbeiter, die immer zunehmende Konzentration 
des großen Besitzes herbeiführen, bis endlich, wie 
Marx mit prophetischem Blicke verkündet, jene 
große Stunde schlägt, wo die bisher Expropriierten 
ihre Ausbeuter expropriieren, wo der durch und 
durch morsche Kapitalismus ins Grab sinkt und 
endlich der Kommunismus als der einzige Befreier 
der Menschheit auf der Bildfläche erscheint. 
5. Würdigung der sozialistischen 
Kritik des Kapitalismus. Eine Wider- 
legung im einzelnen bleibt den betreffenden Ar- 
tikeln (Eigentum, Sozialismus usw.) überlassen. 
Hier sollen nur die bedeutsamsten Punkte heraus- 
gehoben werden. Der Sozialismus ist in der 
verhängnisvollen Verwechslung des Privat- 
eigentums und des Kapitalismus be- 
fangen. Alle Übel, die sich mit größerem oder ge- 
ringerem Rechte am Kapitalismus aussetzen lassen, 
werden ohne weiteres dem Privateigentume zur 
Last gelegt, während doch gewiß eine von christ- 
lichem Geiste getragene Privateigentumsordnung 
der entschiedenste Widerpart des Kapitalismus
	        
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