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auch der Katholizismus ist lediglich der vollendetste
Ausdruck des sens commun.
War die „neue Apologetik“ an sich schon für
Lamennais eine verhängnisvolle Verirrung, so
wurde sie zu einem wahren Unheil für sein Leben
durch die Heftigkeit, mit welcher er den allseits sich
regenden Widerspruch, besonders durch seine Dé-
fence de I’Essai (1821) herausforderte. Er
sprach da schon von dem „Schatten der Kirche“.
Allein noch umgab ihn der Ruhmesglanz des ersten
Apologeten, noch milderte ein glühender Eifer für
den Glauben den fortwuchernden Stolz. Eine
Nomreise (1823), die ihm überall entgegen-
gebrachte Hochachtung, die Auszeichnung, die ihm
Leo XII. zuteil werden ließ — das ihm angeblich
zugedachte Kardinalat ist Mutmaßung —, brachten
in ihm den Plan zur Reife, die zersplitterten Kräfte
der Katholiken um sich zu sammeln, zu diszipli-
nieren und in den Kampf gegen den falschen Zeit-
geist zu führen. In den Dez. 1824 fällt die
Gründung eines im Laufe des ganzen Jahrhunderts
einzig in seiner Art gebliebenen Instituts, der sog.
Lamennaisschen Schule, besser, einer
neuen Liga, einer tatkräftigen Organisation katho-
lischer Kräfte zur Wiedereroberung Frankreichs
für die Kirche. In der bretonischen Einöde von
La Chesnaie, im Verein mit Gerbet, späteren
Bischof von Perpignan, und de Salinis, nachher
Erzbischof von Auch, damals beide Aumoniers
am Pariser Kolleg Henry IV., lediglich zu ver-
tieften Studien, gemeinsamem Leben, unterbrochen
von wenigen Ubungen der Frömmigkeit, sammelte
sich ein großer Kreis von Schülern, von dem nach
vier Jahren eine ausgewählte Schar von Prie-
stern sich abzweigte und eine nach dem hl. Petrus
benannte Kongregation in Malestroit (bei Plo-
örmel) bildete, die sich als Kollegium behufs Pflege
der höheren kirchlichen Apologetik unter Ober-
leitung des „Meisters“ konstituierte. Die Schule
verfügte über eine Revue: Mémorial catholique,
eine Studienanstalt in Juilly, die Freigebigkeit
Lamennais' und seiner Freunde und den Schutz
großer Namen, de Bonalds, Lamartines, V. Hu-
gos, Sainte-Beuves; eine ganze Plejade erstklas-
siger Talente rüstete sich zum Kreuzzuge gegen
den „neuen Islam“, den Unglauben. Die Schil-
derungen des hohen Geisteslebens der Schule
zeugen von der Tiefe und Schlichtheit des reli-
giösen Strebens unter der persönlichen Leitung des
„Meisters“ oder Gerbets, von der schwärmerischen
Begeisterung für ersteren, von der planmäßigen,
ausdauernden wissenschaftlichen Arbeit nicht min-
der wie von der Reizbarkeit und Melancholie,
der oft ungestümen Heftigkeit des „Meisters“.
Gerbet war und blieb der gute Geist des Hauses;
er übernahm auch die Verteidigung Lamennais'
(Des doctrines philosophiques sur la certi-
tude dans leurs rapports avec les bases de
La théologie (1826.)0, als P. Rozaven S. J. dem
System Lamennais eine durchaus sachliche und
schonende Kritik entgegengestellt hatte.
Lamennais.
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Eine anfangs kaum bemerkbare Anderung störte
dieses gemeinsame Leben, als Lamennais, der den
Zusammenbruch seines apologetischen Systems
nicht ertragen konnte und wollte, jäh und plötzlich,
wie es seine Art war, gegen die Lage der Dinge
in Kirche und Staat sich erhob. In der Schrift
De la religion dans ses rapports avec Pordre
politique et civil (1826) brach der verhaltene
Groll in leidenschaftlichen Anklagen gegen die
Monarchie der Restauration los; er griff sie an
als demokratisch in ihren Grundlagen, atheistisch
in ihrer Gesetzgebung, die das ganze öffentliche
Leben, die Familie, die Jugend heillos verderbe;
die Schuld trage der Gallikanismus, der aus der
Religion ein Staatsdepartement mache; die Ret-
tung der Gesellschaft hänge an dem entschlossenen
Kampfe gegen die Nationalkirche, gegen die sog.
gallikanischen Freiheiten; ohne Kirche kein Christen-
tum, ohne Christentum keine Religion, ohne Reli-
gion keine Gesellschaft. Übertreibungen, Ver-
mischungen von Falschem und Wahrem, verletzende
Sarkasmen, Drohungen gegen die bisher bis
zum Absolutismus verteidigte Monarchie deuteten
auf eine für Lamennais' gesamte Charakteranlage
ädußerst gefährliche Wendung der politischen
Grundanschauungen. Zwei unglückliche Er-
eignisse drängten ihn auf der betretenen Bahn
weiter. De Frayssinous mit 14 andern in Paris
gerade anwesenden Bischöfen reichten bei der Krone
eine Anklageschrift (appel comme d’abus) ein,
die Minister klagten bei den Gerichten. Gegen
die kirchlichen Gallikaner erhob sich Lamennais
entrüstet mit der feurigsten Verteidigung der römi-
schen Lehre und Kirche, gegen die parlamentarischen
Gallikaner mit der Anklage auf Verrat der Mon-
archie und mit dem Appell an die Demokratie
unter Hinweis auf die Erhebung der irischen und
belgischen Katholiken; gegen beide schleuderte er
die Schrift: Des progres de la Révolution et
de la guerre contre I’Eglise (1829), worin er
die letzten Maßnahmen der Restauration gegen
die Kirche (Ausschließung der Jesuiten vom öffent-
lichen Lehramte, Reduktion der Priesteramts-
kandidaten, Zwangserziehung an atheistischen
Schulen) in der flammenden Sprache des hoch-
politischen Pamphlets angriff. Zwischen dem ruhe-
losen Kriege der Revolution gegen die Kirche und
der Ohnmacht, dem Verrate des Gallikanismus
bleibe der Kirche nur noch der Weg, sich zu sam-
meln und im engsten Anschluß an Rom, in der
Hebung der Erziehung, in der Wegwendung von
allen Gunstbezeigungen des Staates (Pairie usw.)
die Selbstverteidigung zu organisieren. Je mehr
der Sturz der Bourbonen sich als unwiderruflich
ankündigte, desto mehr wuchs Lamennais' düsterer
Groll; als Berriyer im letzten Augenblick ihn be-
schwor, mit ihm sich zu ihrer Rettung zu einen,
stieß er ihn mit einem biblischen Ausdruck un-
beschreiblicher Verachtung von sich.
Beim Ausbruch der Julirevolution hatte
der revolutionär -liberale Haß gegen die Kirche