661
einen so entsetzlichen Ausdruck angenommen, daß
die Wiederkehr der Greuel von 1793 bevorzustehen
schien. Der Thron war verschwunden, aber der
Altar aufrecht geblieben in neuer, weil gänzlich
veränderter Lage: der Katholizismus als Staats-
religion war beseitigt, aber die Tatsache, daß er
die Religion der Mehrheit der Franzoseu war,
sorderte ihr Recht. Für eine konstitutionelle, regel-
rechte Lösung der politischen Frage, d. h. für die
Berufung Heinrichs V. und die Einsetzung der
Regentschaft des Herzogs von Orleans (Guizot)
zählten die Katholiken nicht mit wegen des gänz-
lichen Mangels an politischer Organisation; hin-
sichtlich der religiösen Frage gewann bei eintreten-
der größerer Beruhigung der Gedanke Raum, daß
die Existenz der Kirche keineswegs mit der Existenz.
einer Dynastie verknüpft sei, und daß erstere mit
jeder dauernd begründeten Regierung und Regie-
rungsform sich vertrage, wofern diese Recht und
Gerechtigkeit übe. Für die Geltendmachung ihrer
religiösen Freiheiten und Rechte blieb den Katho-
liken nur die Selbstorganisation und Selbsthilfe
auf dem Boden des gemeinen Rechts der Charte:
eine große, schwere Aufgabe, um so mehr, als die
gallikanische Frage jetzt um die legitimistische ver-
schärft die Einigung der Katholiken in Frage stellte.
Drei Monate nach den „glorreichen“ Julitagen
kündigte Lamennais, auf den aller Augen gerichtet
waren, die Gründung eines Tagblattes an. Am
16. Okt. erschien die erste Nummer des Auenir
unter der Devise: Dieu et Liberté. Ohne andere
Rücksichtnahme auf die Lage der Zeit und der
Kirche als die Berufung auf die Charte begann
jetzt für den kurzen Zeitraum von 18 Monaten,
geleitet von Lamennais und geführt fast ausschließ-
lich von der kleinen um ihn stehenden Gruppe:
Gerbet, Lacordaire, Montalembert, der Kampf
um die Existenzberechtigung der Kirche auf dem
Boden des gemeinen Rechts, ein kühner Initiativ-
kampf nach allen Seiten, so mächtig durch die Ge-
walt der Ideen und so durchdringend durch den
Akzent einer neuen, bis dahin nicht gehörten poli-
tischen Sprache, daß schon nach den ersten Wochen
das Programm des Avenir auf der Tagesord-
nung der Julimonarchie stand und fortan blieb.
Ein ständiges Aktionskomitee, die Agence géné-
rale zur Verteidigung der religiösen Freiheit,
wachte über jede Verletzung der Religionsfreiheit
in ganz Frankreich und führte deren öffentliche
Ahndung in Schrift, Rede, Untersuchung, Prozeß.
Der mächtige Widerhall, den der Weckruf zu
energischer Selbsthilfe in den Kreisen der Katho-
liken wie ihrer Gegner fand, rief den voltairea-
nischen Geist der leitenden Staatsmänner und
Politiker und ihre erneute Verfolgungssucht wach.
Es zeigte sich indessen bald, daß, je weniger die
Angriffe der Gegner der Bewegung zu schaden
vermochten, desto mehr das unselige Temperament
Lamennais“, sein zügelloser Demokratismus, die
Unerfahrenheit seiner jugendlichen Mitarbeiter den
Widerspruch in katholischen Kreisen befestigten und
Lamennais.
662
vertieften. Theologische Irrungen bedenklicher Art,
Übergriffe in das kirchliche Verwaltungsgebiet,
herbe Kritik der Kirchen= und Zivilgesetzgebung,
zumal die fortgesetzte Verkennung der wirklichen
Lage der Kirche, die Proklamierung absoluter
Religions= und Kultusfreiheit sowie Preß- und
Gewissensfreiheit als deren „unabweisbarer Kon-
seguenz“, dazu die Forderung der Trennung von
Kirche und Staat mit allen ihren Folgen (Preis-
gebung des Konkordates, der Immunität des
Klerus, Verzicht auf das Kultusbudget) wurden
als katholisch im Namen der Kirche und des Volkes
trotz der sich mehrenden Warnungen unentwegt
hingestellt als die einzig mögliche Lösung der reli-
giösen Frage. Weniger die Einsicht in die Un-
haltbarkeit dieser Stellung als der Widerspruch
aus seiner nächsten Umgebung und das bevor-
stehende Einschreiten der kirchlichen Behörden be-
wogen den „Meister“, unter dem 13. Nov. 1831
die Ausgabe des Avenir für suspendiert zu er-
klären mit Berufung auf den an den Papst ge-
richteten Appell zur Entscheidung zwischen ihm
und seinen Gegnern.
Trotz der Warnung Lacordaires, der klar er-
kannt hatte, daß es sich bei Lamennais' Charakter-
anlage jetzt uur um einen Kampf gegen Rom,
nicht um eine besonnenere, mehr Würde und kirch-
lichen Sinn zeigende Wiederaufnahme des unter-
brochenen Werkes handeln werde, blieb Lamennais
bei seiner Romfahrt in Begleitung von Lacordaire
und Montalembert in der Illusion befangen, den
Papst für seine Ideen einer Allianz zwischen
Katholizismus und Demokratie, d. h. für die
liberal-revolutionären Ideen von 1830 gewinnen
zu können. Für die zuwartende, schonende und
äußerst rücksichtsvolle Haltung der römischen Kurie
zeigte er kein Verständnis, als er durch eine Recht-
fertigungsschrift, dann bei einer nur bedingungs-
weise zugestandenen Audienz Gregors XVI., end-
lich (auf der Rückreise beim Internuntius zu
Florenz) durch die Drohung des Wiedererscheinens
des Avenir den Spruch des Papstes geradezu
provozierte. In München traf ihn die abweisende
Antwort, die Enzyklika Mirari vos (15. Aug.
d. J.). Auf ernsteres Zureden seiner Freunde gab
er seine Unterwerfung zugleich mit der Ankündi-
gung der Auflösung des Avenir und der Agence
générale bekannt. Es war ein Akt der offi-
ziellen Anerkennung der Autorität durch freiwil-
liges Schweigen, kein Akt innerer Unterwerfung.
18 volle Monate schwankte er, seiner leidenschaft-
lichen Heftigkeit gegen die Entscheidung Roms
immer wieder nachgebend, zweimal (4. Aug. und
5. Nov. 1833) unter Wahrung seiner Denkweise
die Zustimmung zur Enzyklika erneuernd; unter
dem 11. Dez. d. J. erklärte er seine rückhaltlose
Unterwerfung, aber am 1. Jan. 1834 schrieb er
an Montalembert: er wolle Frieden um jeden
Preis, „selbst um die Erklärung, daß der Papst
Gott ist, der große Gott des Himmels und der
Erde, und daß er angebetet werde, er allein“.