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wissen Beziehungen die übrigen überragt, während
sie in andern von diesen übertroffen wird, sehen
sie sich gegenseitig aufeinander angewiesen und
arbeiten so gemeinsam am Fortschritt. Zudem
dient die allmähliche oder plötzliche Vermischung
verschiedener Nationalitäten zur gegenseitigen Neu-
belebung, und nicht selten wird durch eine solche
Vermischung alternden Nationen gewissermaßen
neues Blut eingeimpft (Völkerwanderung).
Sind nun aber die verschiedenen Nationalitäten
ein Werk der Vorsehung, das im großen Schöp-
fungsplane seine Bedeutung hat, so folgt not-
wendig, daß die Staatsgewalt nicht die Aufgabe
und das Recht haben kann, dieselben mit Gewalt
zu unterdrücken. Vielmehr hat jede Nation ein
natürliches Recht auf ihren Bestand und auf die
Erhaltung ihrer nationalen Eigentümlichkeiten,
insbesondere ihrer Sprache, und zwar gilt dies
nicht bloß von einer Nation in ihrer Gesamtheit,
sondern auch von Bruchteilen derselben, die sich
etwa unter Fremdherrschaft befinden. So hat
z. B., um die Frage praktisch zu fassen, Preußisch--
Polen oder Russisch-Polen ein natürliches Recht
auf die Erhaltung seiner nationalen Institutionen,
insbesondere seiner Nationalsprache. — Wir sagen
ein natürliches Recht. Es kann nämlich sein,
daß einem Teil einer Nation die Erhaltung der
Nationalität, insbesondere der Nationalsprache,
völkerrechtlich durch Vertrag oder Königswort
garantiert ist. Dann haben solche Nationen auch
ein positives Recht auf ihre Nationalität, und
die gewaltsame Unterdrückung der Nationalsprache
im gewöhnlichen Verkehr und beim Religions-
unterricht in den Elementarschulen wäre eine
schreiende Rechtsverletzung und ein Wortbruch.
Daher sagt R. v. Mohl (Staatsrecht, Völkerrecht
und Politik II 347) mit Recht: „Eine gewissen-
bafte Einhaltung von förmlichen Versprechen (ist)
nicht nur Gebot der Sittlichkeit, sondern einfache
Klugheit; auch darf nicht vergessen werden, daß
eine wirkliche oder nur vermeintliche höhere Ge-
sittung keineswegs ein Recht gibt, die mit Volks-
eigentümlichkeiten zusammenhängenden besondern
Einrichtungen gegen Vertrag und Gesetz zu ver-
letzen und umzugestalten.“ Doch wir sehen im
folgenden von positiven, nicht allen Nationen ge-
meinsamen Rechten ab und betrachten bloß die
natürlichen Rechte, welche den Angehörigen einer
Nation auf Grund ihrer Nationalität zukommen.
Zu diesen natürlichen Rechten gehört vor allem
das Recht auf die nationale Sprache. „Die
Sprache“, sagt treffend Bluntschli (Die Lehre
vom modernen Staat 1 (18751 100), „ist das
eigenste Gut jeder Nation; in der Sprache vor-
züglich gibt sich die Eigenart derselben kund; sie
ist das stärkste Band, welches die Genossen der
Nation zu einer Kulturgemeinschaft verbindet.
Daher darf der Staat nicht der Nation ihre
Sprache verbieten.“ Namentlich „wird es von
einer zivilisierten Nation als ein bitteres Unrecht
empfunden, wenn ihre Sprache aus der Schule
Staatslexikon. III. 3. Aufl.
Nation usw.
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und der Kirche zugunsten einer fremden Sprache
verdrängt wird“. — Zu den natürlichen Rechten
der Nationen gehört ferner das Recht, ihre natio-
nalen Sitten und Gebräuche zu üben, soweit sie
nicht in sich verwerflich oder dem Gesamtwohl
verderblich sind. Diese Rechte soll der Staat
respektieren.
In der Tat, worauf sollte sich die Befugnis
stützen lassen, einer Nation ihre nationalen Eigen-
tümlichkeiten mit Gewalt zu rauben, sie gewisser-
maßen zum nationalen Tod zu verurteilen? Etwa
auf das öffentliche Wohl oder das Staatsinteresse?
Unmöglich. Alle Völker betrachten ihre nationalen
Sitten und Einrichtungen und ihre National-
sprache als ihre teuersten und höchsten Güter. Mit
unglaublicher Liebe und Zähigkeit hängen alle
Völker an diesen nationalen Besitztümern und
bewahren sie als ein teures und heiliges Ver-
mächtnis ihrer Ahnen. Wer wüßte nicht, welchen
Zauber der Klang der Muttersprache in der Fremde
auf das Gemüt jedes Menschen ausübt! Kann
nun die Staatsgewalt befugt sein, einer Nation
diese kostbarsten Güter mit Gewalt zu entreißen?
Der bloße Nutzen gibt ihr sicherlich eine solche
Befugnis nicht. Denn einer Regierung die Voll-
macht zusprechen, alle Güter und Rechte der Unter-
tanen zu beschlagnahmen oder zu unterdrücken,
sobald ihr dies für das öffentliche Interesse er-
sprießlich erscheint, hieße ihr einen Freibrief für
jede Knechtung und Tyrannei ausstellen.
Also nur die gebieterische Notwendigkeit zum
Bestande eines Staates könnte allenfalls zur Unter-
drückung einer Nationalität irgendwie berechtigen.
Liegt nun aber je eine solche unbedingte Not-
wendigkeit vor? Im Gegenteil; die Erhaltung
des Staatsganzen würde eher durch eine solche
gewaltsame Unterdrückung in Frage gestellt. Schon
die bloße Vermutung, die Regierung sei gewissen
Nationalitäten gegenüber voreingenommen oder
gehe heimlich auf eine Schmälerung derselben aus,
genügt, um eine ganze Provinz mißtrauisch und
verstimmt zu machen. Und erst eine förmliche,
tendenziöse Verfolgung einer Nationalität ruft die
offenste Abneigung, ja Erbitterung gegen die
Regierung hervor und kann einem Staatswesen
viel größeren Schaden bringen, als ihm je die
weitestgehende Duldung solcher Lieblingseigen-
tümlichkeiten verursachen könnte. — Es handelt
sich ja hier nur um Duldung solcher nationalen
Sitten und Gebräuche, die sich sehr wohl mit der
nötigen politischen Einheit eines Staates ver-
einigen lassen. So ist z. B. die Forderung des
Gebrauches einer gemeinsamen Sprache für die
öffentlichen Staatsangelegenheiten an und für sich
noch nicht notwendig als eine unberechtigte Unter-
drückung der Nationalsprache zu betrachten. Denn
mit einer solchen Forderung kann der Gebrauch
und die Pflege der Nationalsprache im gewöhn-
lichen Verkehr, in den Volksschulen, in Wissen-
schaft, Literatur und Poesie sehr wohl bestehen.
Auch wollen wir nicht alle und jede sanften und
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