Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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wissen Beziehungen die übrigen überragt, während 
sie in andern von diesen übertroffen wird, sehen 
sie sich gegenseitig aufeinander angewiesen und 
arbeiten so gemeinsam am Fortschritt. Zudem 
dient die allmähliche oder plötzliche Vermischung 
verschiedener Nationalitäten zur gegenseitigen Neu- 
belebung, und nicht selten wird durch eine solche 
Vermischung alternden Nationen gewissermaßen 
neues Blut eingeimpft (Völkerwanderung). 
Sind nun aber die verschiedenen Nationalitäten 
ein Werk der Vorsehung, das im großen Schöp- 
fungsplane seine Bedeutung hat, so folgt not- 
wendig, daß die Staatsgewalt nicht die Aufgabe 
und das Recht haben kann, dieselben mit Gewalt 
zu unterdrücken. Vielmehr hat jede Nation ein 
natürliches Recht auf ihren Bestand und auf die 
Erhaltung ihrer nationalen Eigentümlichkeiten, 
insbesondere ihrer Sprache, und zwar gilt dies 
nicht bloß von einer Nation in ihrer Gesamtheit, 
sondern auch von Bruchteilen derselben, die sich 
etwa unter Fremdherrschaft befinden. So hat 
z. B., um die Frage praktisch zu fassen, Preußisch-- 
Polen oder Russisch-Polen ein natürliches Recht 
auf die Erhaltung seiner nationalen Institutionen, 
insbesondere seiner Nationalsprache. — Wir sagen 
ein natürliches Recht. Es kann nämlich sein, 
daß einem Teil einer Nation die Erhaltung der 
Nationalität, insbesondere der Nationalsprache, 
völkerrechtlich durch Vertrag oder Königswort 
garantiert ist. Dann haben solche Nationen auch 
ein positives Recht auf ihre Nationalität, und 
die gewaltsame Unterdrückung der Nationalsprache 
im gewöhnlichen Verkehr und beim Religions- 
unterricht in den Elementarschulen wäre eine 
schreiende Rechtsverletzung und ein Wortbruch. 
Daher sagt R. v. Mohl (Staatsrecht, Völkerrecht 
und Politik II 347) mit Recht: „Eine gewissen- 
bafte Einhaltung von förmlichen Versprechen (ist) 
nicht nur Gebot der Sittlichkeit, sondern einfache 
Klugheit; auch darf nicht vergessen werden, daß 
eine wirkliche oder nur vermeintliche höhere Ge- 
sittung keineswegs ein Recht gibt, die mit Volks- 
eigentümlichkeiten zusammenhängenden besondern 
Einrichtungen gegen Vertrag und Gesetz zu ver- 
letzen und umzugestalten.“ Doch wir sehen im 
folgenden von positiven, nicht allen Nationen ge- 
meinsamen Rechten ab und betrachten bloß die 
natürlichen Rechte, welche den Angehörigen einer 
Nation auf Grund ihrer Nationalität zukommen. 
Zu diesen natürlichen Rechten gehört vor allem 
das Recht auf die nationale Sprache. „Die 
Sprache“, sagt treffend Bluntschli (Die Lehre 
vom modernen Staat 1 (18751 100), „ist das 
eigenste Gut jeder Nation; in der Sprache vor- 
züglich gibt sich die Eigenart derselben kund; sie 
ist das stärkste Band, welches die Genossen der 
Nation zu einer Kulturgemeinschaft verbindet. 
Daher darf der Staat nicht der Nation ihre 
Sprache verbieten.“ Namentlich „wird es von 
einer zivilisierten Nation als ein bitteres Unrecht 
empfunden, wenn ihre Sprache aus der Schule 
Staatslexikon. III. 3. Aufl. 
Nation usw. 
  
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und der Kirche zugunsten einer fremden Sprache 
verdrängt wird“. — Zu den natürlichen Rechten 
der Nationen gehört ferner das Recht, ihre natio- 
nalen Sitten und Gebräuche zu üben, soweit sie 
nicht in sich verwerflich oder dem Gesamtwohl 
verderblich sind. Diese Rechte soll der Staat 
respektieren. 
In der Tat, worauf sollte sich die Befugnis 
stützen lassen, einer Nation ihre nationalen Eigen- 
tümlichkeiten mit Gewalt zu rauben, sie gewisser- 
maßen zum nationalen Tod zu verurteilen? Etwa 
auf das öffentliche Wohl oder das Staatsinteresse? 
Unmöglich. Alle Völker betrachten ihre nationalen 
Sitten und Einrichtungen und ihre National- 
sprache als ihre teuersten und höchsten Güter. Mit 
unglaublicher Liebe und Zähigkeit hängen alle 
Völker an diesen nationalen Besitztümern und 
bewahren sie als ein teures und heiliges Ver- 
mächtnis ihrer Ahnen. Wer wüßte nicht, welchen 
Zauber der Klang der Muttersprache in der Fremde 
auf das Gemüt jedes Menschen ausübt! Kann 
nun die Staatsgewalt befugt sein, einer Nation 
diese kostbarsten Güter mit Gewalt zu entreißen? 
Der bloße Nutzen gibt ihr sicherlich eine solche 
Befugnis nicht. Denn einer Regierung die Voll- 
macht zusprechen, alle Güter und Rechte der Unter- 
tanen zu beschlagnahmen oder zu unterdrücken, 
sobald ihr dies für das öffentliche Interesse er- 
sprießlich erscheint, hieße ihr einen Freibrief für 
jede Knechtung und Tyrannei ausstellen. 
Also nur die gebieterische Notwendigkeit zum 
Bestande eines Staates könnte allenfalls zur Unter- 
drückung einer Nationalität irgendwie berechtigen. 
Liegt nun aber je eine solche unbedingte Not- 
wendigkeit vor? Im Gegenteil; die Erhaltung 
des Staatsganzen würde eher durch eine solche 
gewaltsame Unterdrückung in Frage gestellt. Schon 
die bloße Vermutung, die Regierung sei gewissen 
Nationalitäten gegenüber voreingenommen oder 
gehe heimlich auf eine Schmälerung derselben aus, 
genügt, um eine ganze Provinz mißtrauisch und 
verstimmt zu machen. Und erst eine förmliche, 
tendenziöse Verfolgung einer Nationalität ruft die 
offenste Abneigung, ja Erbitterung gegen die 
Regierung hervor und kann einem Staatswesen 
viel größeren Schaden bringen, als ihm je die 
weitestgehende Duldung solcher Lieblingseigen- 
tümlichkeiten verursachen könnte. — Es handelt 
sich ja hier nur um Duldung solcher nationalen 
Sitten und Gebräuche, die sich sehr wohl mit der 
nötigen politischen Einheit eines Staates ver- 
einigen lassen. So ist z. B. die Forderung des 
Gebrauches einer gemeinsamen Sprache für die 
öffentlichen Staatsangelegenheiten an und für sich 
noch nicht notwendig als eine unberechtigte Unter- 
drückung der Nationalsprache zu betrachten. Denn 
mit einer solchen Forderung kann der Gebrauch 
und die Pflege der Nationalsprache im gewöhn- 
lichen Verkehr, in den Volksschulen, in Wissen- 
schaft, Literatur und Poesie sehr wohl bestehen. 
Auch wollen wir nicht alle und jede sanften und 
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