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Bei den angeführten Maßregeln ist das Interesse
der landwirtschaftlichen Bevölkerung ganz eben
beteiligt wie das der Produktion; das Interesse
ist dagegen ein verschiedenes, wo die Ausdehnung
des Betriebs in Frage kommt. Das einseitige
Interesse der Produktion geht auf die Ausbildung
des Großbetriebs bei intensiver Wirtschaft unter
zentraler Leitung, mit allen Hilfsmitteln der
modernen Technik und des modernen Verkehrs.
Das Interesse der landwirtschaftlichen Bevölkerung
geht auf Erhaltung des mittleren und kleinen
Grundbesitzes. Hier liegen die Probleme, an die
man zunächst zu denken pflegt, wo von Agrar-
politik die Rede ist. Hat man eine Zeitlang ge-
glaubt, der allgemeinen Wohlfahrt dadurch zu
dienen, daß man mit allen Mitteln der Gesetz-
gebung und Verwaltung die Mobilisierung des
Grundbesitzes förderte, so drängt sich zurzeit die
entgegengesetzte, auf Befestigung abzielende Rich-
tung mit großem Nachdruck hervor: Ausbildung
eines besondern bäuerlichen Erbrechts, Einführung
von Heimstätten und in Verbindung damit eine
möglichst günstige Reglung der landwirtschaft-
lichen Kreditverhältnisse sind die hauptsächlichsten
Forderungen, die erhoben werden; die einen ver-
langen geradezu Verstaatlichung des ländlichen
Hypothekenwesens, die andern zum mindesten Um-
wandlung der jetzigen Form der Verschuldung in
die einer unkündbaren Rentenschuld und Schaffung
korporativer Verbände nach dem Vorbild der
sog. Landschaften. Hierzu tritt als eine weitere
Aufgabe der Schutz gegen besondere, die Land-
wirtschaft bedrohende Gefahren, wie die Verluste
durch Hagelschlag, Viehseuchen usw., und auch
mit Rücksicht hierauf ergibt sich wiederum die
Wahl zwischen direkter Staatshilfe oder Heran-
ziehung der Beteiligten, und in letzterem Fall
abermals zwischen Versicherungszwang und frei-
williger Versicherung, staatlichen und genossen-
schaftlichen Versicherungsanstalten oder Übertra-
gung der Versicherung an selbständige Erwerbs-
vereine (Aktiengesellschaften). Das Gesagte genügt,
um ein Bild von den überaus mannigfaltigen
und weitreichenden Aufgaben zu gewähren, welche
der staatlichen Wohlfahrtspolitik allein schon gegen-
über der Landwirtschaft und der ländlichen Be-
völkerung gesteckt sind, und läßt bereits hinreichend
erkennen, welches Maß sorgfältigster Ergründung
der tatsächlichen Verhältnisse und gewissenhafter
Abwägung der verschiedenartigsten Interessen er-
forderlich ist, um die nach Ort und Zeit angemes-
senen Maßregeln zu ergreifen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die ge-
werbliche Produktion in noch weit höherem
Grad durch die Stellungnahme von Gesetzgebung
und staatlicher oder gemeindlicher Verwaltung be-
einflußt wird als die Landwirtschaft. Der ge-
werbliche Produzent kann die von ihm gefertigten
Erzeugnisse nur zum kleinsten Teil selbst in Ge-
brauch nehmen, er ist vielmehr auf den Absatz
derselben, auf Tausch und Verkauf angewiesen;
S
Politik.
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dies aber setzt nicht nur bestimmte wirtschaftliche
und gesellschaftliche Verhältnisse voraus, sondern
es kann auch durch autoritative Einrichtungen der
Absatz und damit die Produktion in verschieden-
artiger Weise geregelt werden, wobei bald das
Interesse der Produzenten bald das der Konfu-
menten maßgebend sein kann. Die mittelalterliche
Zunftverfassung war ein Versuch, beiden gerecht
zu werden; denn wenn der Verkauf von Hand-
werkserzeugnissen nur den Zunftgenossen ge-
stattet war, so bedeutete dies für die letzteren
die Beseitigung einer den lohnenden Erwerb schä-
digenden Konkurrenz, aber es verbürgte doch auch,
sofern die Zugehörigkeit zur Zunft an bestimmte
Bedingungen geknüpft war, die Güte der gelieferten
Waren. Mit dem Absterben des Zunftwesens
kam das System staatlicher Konzessionierung auf,
in dessen Durchführung sich leicht fiskalische Neben-
absichten einmischen konnten. Die französische Re-
volution proklamierte den Grundsatz der Gewerbe-
freiheit. Die Aushebung aller Privilegien und
Schranken sollte einem jeden die Möglichkeit er-
öffnen, durch Geschicklichkeit und Fleiß zu lohnen-
dem Erwerb zu gelangen; zugleich aber hielt man
das Interesse der Konsumenten gerade durch den
freien Wettbewerb der Produzenten für gewahrt,
da nur die Lieferung guter Ware dauernden Absatz
verbürge. In Wirklichkeit bestanden hat indessen
absolute Gewerbefreiheit wohl nirgends und nie-
mals; schon allein die Gefährlichkeit einzelner Be-
triebe für Leben und Gesundheit Dritter nötigte zu
polizeilichen Maßregeln. Demnächst aber ließ
das Aufkommen der maschinellen Großindustrie,
welche dank der Entwicklung der Verkehrsmittel
für den Weltmarkt arbeitet, in steigendem Maß
Zweifel an der Richtigkeit des Grundsatzes ent-
stehen und brachte damit neue politische Aufgaben.
Es genügt, an die Arbeiterfrage und die Hand-
werkerfrage zu erinnern und die wachsende Bedeu-
tung, welche dieselben in den letzten Jahrzehnten
gewonnen haben. Hier ist der Boden, auf dem
die gewaltigste und für unsere gesamte Kultur be-
drohlichste Parteibildung sich entwickelt hat. Nach
manchen Richtungen ist es der Gesetzgebung ge-
lungen, Mittel zu finden, um die arbeitende Be-
völkerung gegen die besondern Gefahren zuschützen,
welche die moderne Produktionsweise mit sich
bringt; darüber hinaus aber erhebt sich die un-
ermeßlich wichtige Aufgabe der Erhaltung des
Mittelstands. Was soll und was kann der Staat
dafür tun? Ist es möglich, das Handwerk vor
gänzlichem Untergang und die darin beschäftigten
selbständigen Existenzen vor der Verwandlung in
abhängige Lohnarbeiter zu schützen? Die Aufgabe
ist keineswegs auf das Bereich des Handwerks
eingeschränkt. Wie dieses durch die Entwicklung
des maschinellen Großbetriebs, so sieht sich der
kleine Kaufmann durch das Aufkommen der großen
Warenhäuser und Versandgeschäfte bedroht. Es
ist nicht nötig, ins einzelne zu gehen. Die hier
einschlagenden Wünsche, Befürchtungen und Vor-
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