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herrn zu, die sog. dinglichen Rechte natürlich nur,
soweit der betreffende Familienzweig im Besitz einer
Herrschaft ist, auf dem ehemals, d. h. vor 1806,
eine Stimme im Reichstag ruhte und die bis 1806
reichsunmittelbar war.
Den Häuptern der standesherrlichen Familien
kommt das Prädikat „Durchlaucht“, den Häup-
tern der gräflichen Familien das Prädikat „Er-
laucht“ zu. Ferner wird gegen diese Familien ein
angemessenes Kanzleizeremonial beobachtet. Sie
besitzen ferner das Ehrenrecht des Trauergeläutes
beim Tod eines Familienglieds in den „Orten
ihrer Besitzungen“, doch ist dieses „Recht“ ohne
rechtliche Bedeutung. Die Mitglieder der standes-
herrlichen Familien sind von der allgemeinen
Wehrpflicht befreit.
b) Dingliche Rechte, d. h. solche, die bedingt
sind durch den Besitz einer Standesherrschaft inner-
halbdes Staats, dessen Souveränität das betreffende
Territorium 1806 bzw. 1815 unterworfen worden:
1. Das Recht der erblichen Landstand-
schaft, d. h. die Häupter der standesherrlichen
Familien und die Häupter selbständiger Familien-
zweige, die im Besitz einer Standesherrschaft sich
befinden, haben das erbliche Recht der Mitglied-
schaft des Herrenhauses bzw. in Bayern der Kam-
mer der Reichsräte bzw. in den andern Mittel-
staaten der ersten Kammern.
2. Die standesherrlichen Familien haben ferner
das Recht der Autonomie, d. h. der Selbst-
gesetzgebung durch Errichtung von Familienver-
trägen, Statuten, Hausgesetzen und Fideikommissen
in Beziehung auf die Familien= und Güterver-
hältnisse nach Maßgabe des Art. 14 der deutschen
Bundesakte, der vorschreibt, daß diese standes-
herrlichen Hausgesetze usw. „dem Souverän vor-
gelegt und bei den höchsten Landesstellen zur
allgemeinen Kenntnis und Nachachtung gebracht
werden sollen“. Das B.G.B. sagt in Art. 48 des
Einf. Ges.: „In Ansehung der Familienverhält=
nisse und der Güter derjenigen Häuser, welche vor-
mals reichsständisch gewesen.., bleiben die Vor-
schriften der Landesgesetze und nach Maßgabe der
Landesgesetze die Vorschriften der Hausverfassungen
unberührt.“
Die Landesgesetze können demnach die Auto-
nomie der Standesherren beschränken. Die Frage,
ob die „Vorlage an den Landesherrn“ einer Be-
stätigung gleichkommt, ist verschieden beantwortet
worden. Für Preußen bejaht v. Rönne diese
Frage, während v. Seydel für Bayern sie ver-
neint; in der Praxis besteht nun tatsächlich in der
Stellung des Landesherrn zu diesem Hausgesetz-
gebungsrecht der Standesherren kein Unterschied;
da ja die standesherrlichen Hausgesetze erst dann
von den Landesstellen zu beachten sind, also erst
Gesetzeskraft erlangen, wenn sie nach Prüfung die
landesherrliche Genehmigung erhalten haben und
„gehörig“ verkündet sind.
3. Während durch Art. 14 der Bundesakte und
die Gesetzgebung der beiden ersten Jahrzehnte des
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Standesherren, deutsche.
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19. Jahrh. auch in den Einzelstaaten den standes-
herrlichen Familien noch das Vorrecht des privi-
legierten Gerichtsstands in bürgerlichen
Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen garantiert bzw.
anerkannt worden war, erkennen die mit dem 1. Okt.
1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze ein
solches Vorrecht der Standesherren nicht mehr an.
Doch hat der §7 des Einf.Ges. zum deutschen
Gerichtsverfassungsgesetz bestimmt, daß durch das-
selbe das landesgesetzlich den Standesherren ge-
währte Recht auf sog. Austräge nicht berührt wird.
Für Preußen greift hier die Instruktion vom
30. Mai 1820 Platz, danach besitzen in Preußen
die Häupter der standesherrlichen Familien, aber
nur diese, nicht aber die übrigen Mitglieder, das
Recht auf Austrägalgerichtsbarkeit, aber nur in
Strassachen, d. h. die Standesherren können ver-
langen, daß sie nur von Standesgenossen gerichtet
werden, soweit die Straftat nicht im königlichen
Dienst begangen wurde. Die Entscheidungen der
Austrägalgerichte bedürfen königlicher Bestätigung
und sind endgültig.
In Bayern, in Württemberg und Baden
ist dieses Vorrecht der Standesherren aufgehoben.
Dagegen besteht es noch im Großherzogtum
Hessen; hier besteht das Austrägalgericht aus sechs
Standesherren unter Vorsitz des Oberlandes-
gerichtspräsidenten und unter beratender Mitwir-
kung zweier Oberlandesgerichtsräte. Im Gebiet
der nicht streitigen freiwilligen Gerichts-
barkeit stehen bei Verlassenschaftssachen
der Mitglieder der standesherrlichen Familien,
solange zwischen den Beteiligten keine Differenzen
entstehen, dem Familienhaupt gewisse Erledigungs-
befugnisse zu.
4. Die einstigen Regierungsrechte der
Standesherren sind im allgemeinen ver-
schwunden.
In Preußen sind jedoch einzelnen Standes-
herren gewisse Mitwirkungsrechte bei der Besetzung
der Landrats= und der Bürgermeisterstellen in ihren
ehemaligen Gebieten vorbehalten worden. So
müssen z. B. in den östlichen Provinzen nach dem
Gesetz vom 18. Juni 1876 die Fürsten bzw.
Grafen zu Stolberg bei der Besetzung der Stellen
der Amtsvorsteher in den Grasschaften und für
die Grafschaft Wernigerode auch bei derjenigen
des Landrats „gehört“ werden. In ährlicher
Weise ist den Fürsten von Sayn-Wittgenstein-
Hohenstein und Sayn-Wittgenstein-Berleburg für
die Besetzung der Stellen der Amtmänner im
Kreis Wittgenstein ein Mitwirkungsrecht aner-
kannt worden; ebenso muß bei der Wahl des
Landrats des Kreises Neuwied der Fürst zu Wied
und bei der des Landrats des Kreises Wetzlar und
der Bürgermeister in den Gemeinden ihrer standes-
herrlichen Besitzungen die Fürsten zu Solms-
Braunfels und zu Solms-Hohensolms-Lich „ge-
hört“ werden. Die übrigen Standesherren der
westlichen Provinzen haben keinerlei Regierungs-
rechte mehr.
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