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Eine bedeutsame Erweiterung erfuhr dann die
neuere Statistik durch die amtlichen Erhebungen
und die eifrigen wissenschaftlichen Bestrebungen
seit den 1850er Jahren. Während die sog. mathe-
matischen Statistiker (wie Laplace, Fourier, Moser,
neuerdings Knapp, Zeuner, Becker, Lexis, Wester-
gaard, Bortkiewicz) der Verbesserung der statisti-
schen Methode ihre hauptsächliche Aufmerksamkeit
zuwandten, wurde auf der andern Seite, nament-
lich von den staatlichen und städtischen statistischen
Amtern das gewonnene Zahlenmaterial immer
eingehender verarbeitet und für Wissenschaft und
Praxis nutzbar gemacht. Die moderne Sozial-=
und Wirtschaftspolitik kann der Statistik nicht
mehr entbehren. Eine Fülle wertvoller Anregungen
verdankt dieselbe auch den internationalen Kon-
gressen und Vereinigungen von wissenschaftlich
durchgebildeten Fachgelehrten sowie dem regel-
mäßigen Austausch der amtlichen Veröffentli-
chungen, den Aufsätzen in statistischen Zeitschriften
u. dgl., so daß heute trotz der durch die Eigen-
tümlichkeiten der einzelnen Staaten und das ver-
schiedenartige Vorgehen der Verwaltungsbehörden
bedingten nationalen Unterschiede der länder-
umfassende Charakter der Statistik nicht nur ge-
wahrt bleibt, sondern gerade nach dieser Richtung
hin einen erfreulichen Fortschritt zu verzeichnen
hat. In immer steigendem Umfang hat die Sta-
tistik auch in den letzten Jahrzehnten ungeachtet
des Wechsels der Anschauungen über ihre Ziele und
Aufgaben eine Heimstätte auf den Hochschulen
gefunden. Sie wird heute allgemein an den Uni-
versitäten und andern Hochschulen entweder in
Verbindung mit der Nationalökonomie oder als
besonderer Lehrgegenstand behandelt. An ver-
schiedenen deutschen und außerdeutschen Hochschulen
bestehen auch eigne, zum Teil mit statistischen Am-
tern in Verbindung stehende statistische Seminare.
III. Organisation der amklichen und der
internationalen Statistik. Während die stati-
stischen Ermittlungen in früheren Zeiten regel-
mäßig bestimmte praktische Zwecke verfolgten und
dementsprechend mit wenigen Ausnahmen das Ge-
präge des Ungeordneten und Zufälligen trugen,
wurde seit Beginn des 19. Jahrh. die Veranstal-
tung regelmäßiger, fortlaufender statistischer Be-
schreibungen und Erhebungen für Verwaltungs-
zwecke immer mehr als eine wichtige Aufgabe der
staatlichen und späterhin auch der größeren städ-
tischen Gemeinwesen anerkannt. Die stetige Aus-
dehnung des statistischen Dienstes und die Erkennt-
nis von der Notwendigkeit einer einheitlichen Vor-
nahme und Bearbeitung der Erhebungen führten
zur Gründung besonderer statistischer Bureaux,
welche im Lauf der Zeit durch Beschaffung einer
umfangreichen Quellenliteratur sowohl der Wissen-
schaft als auch der Praxis wertvolle Dienste
leisteten und zur Verbesserung der statistischen Me-
thode einen sehr erheblichen Teil beitrugen. Ein-
zelne Zweige der Statistik werden übrigens auch
heute noch nicht von den statistischen Amtern, son-
Statistik.
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dern von den betreffenden Verwaltungs-(Eisen-
bahn-, Post-, Zoll-, Justiz-, Steuer-, Ver-
sicherungs-) Behörden gepflegt. Welche Ausdeh-
nung die amtliche Statistik infolge der gewaltig
gesteigerten Tätigkeit des Staats auf allen Ge-
bieten des politischen, wirtschaftlichen, sozialen und
Kulturlebens seit dem Anfang des vorigen Jahr-
hunderts erfahren hat, davon legen die in den ein-
zelnen Ländern gegenwärtig der Statistik dienen-
den umfangreichen und kostspieligen Verwaltungs-
einrichtungen, die zahlreichen Erhebungen und das
mächtig angeschwollene Druckschriftenmaterial ein
beredtes Zeugnis ab.
Die Zentralstelle für die deutsche Reichs-
statistik bildet das im Jahr 1872 gegründete
Kaiserliche Statistische Amt in Berlin, welches
dem Reichsamt des Innern unterstellt ist; vorher
hatte ein Zentralbureau den statistischen Bedürf-
nissen des Zollvereins Rechnung getragen. Die
statistische Reichsbehörde hat die Aufgabe, das auf
Grund von Gesetzen, auf Anordnung des Bundes-
rats oder Reichskanzlers für die Reichsstatistik zu
liefernde Material zu sammeln, zu prüfen sowie
technisch und wissenschaftlich zu bearbeiten. Die
bisherigen Arbeiten des Amts erstrecken sich auf die
verschiedensten Gebiete des Sozial-, Kultur= und
Wirtschaftslebens, wie Bevölkerung, Landwirt-
schaft, Gewerbe, Industrie, Handel und Verkehr,
Arbeiterverhältnisse, Zoll-, Steuer= und Finanz-
wesen, Preise, Reichstagswahlen, Kriminalstatistik,
Konkurse, Krankenversicherung, Armenwesen usw.
Bei verschiedenen Erhebungen (Volkszählungen,
Berufs- und Betriebszählungen, Bevölkerungs-
bewegung usw.) erfolgt die Bearbeitung des Mate-
rials nicht durch das statistische Reichsamt, sondern
seitens der Landeszentralstellen, welche dann an
ersteres gewisse Tabellen zwecks weiterer Zusammen-
stellung und Verarbeitung einsenden. (Veröffent-
lichungen: 1. Statistik des Deutschen Reichs, das
Quellenwerk. 2. Vierteljahrshefte zur Statistik des
Deutschen Reichs, mit Auszügen aus dem Quellen-
werk und vorläufigen Mitteilungen. 3. Monat-
liche Nachweise über den auswärtigen Handel,
Großhandelspreise usw. 4. Statistisches Jahrbuch
für das Deutsche Reich.) Im Jahr 1902 wurde
dem Kaiserlichen Statistischen Amt als ständige
Einrichtung (an Stelle der früheren Kommission)
ein Beirat für Arbeiterstatistik ange-
gliedert, der das Amt bei Erfüllung der ihm auf
diesem wichtigen sozialpolitischen Gebiet zuge-
wiesenen Aufgaben zu zuenüs hat und aus
15 Mitgliedern besteht. Als Publikationsorgan
dient das Reichsarbeitsblatt, welches jeden Monat
eingehende Berichte über die Lage des Arbeits-
markts bringt und auch andere wertvolle Abhand-
lungen, z. B. über die Wohnungsfrage, Arbeits-
losenfürsorge, Bekämpfung der Lungentuberkulose
und Kindersterblichkeit usw., enthält. Die Ergeb-
nisse der größeren Untersuchungen werden in den
„Beiträgen zur Arbeiterstatistik“ veröffentlicht, von
denen bisher 11 Bände erschienen sind.