261
da sie doch ein Übel ist, was ist ihr Wesen, was
ihr Zweck?
3. Dieses Problem zu lösen, das im allgemeinen
ebenfalls dem Gebiet der Kriminalpolitik angehört,
ist die besondere Aufgabe der sog. Strafrechts-
theorien. Es ist von jeher der Gegenstand eifrig-
ster Spekulation gewesen, ohne daß jedoch bis heute
trotz — oder vielleicht auch wegen? — allen auf-
gewendeten Scharfsinns ein gesichertes Gesamt-
ergebnis zu verzeichnen wäre; im Gegenteil, es
scheint ein solches in weiterer Ferne zu liegen als je.
a) Schon in der griechischen Philosophie
sind die wesentlichen Gedanken zutage getreten, die
den Kernpunkt der in der neueren Zeit ausgebauten
Theorien bilden. Als älteste derartige Ansicht über
das Wesen der Strafe ist die des Pythagoras
und seiner Schule bekundet, die dieses Wesen in
der gerechten Vergeltung sieht und sich damit auf
den Boden der griechischen Volksanschauung stellt,
wie sie sich durchgängig in der Dichtung kund-
gibt, nach der dem Verbrechen die Strafe als Ver-
geltung des Bösen folgt. Andere sehen in der
Strafe unmittelbar ein Mittel, den Zorn der
Götter über das begangene Verbrechen zu fühnen.
Plato sodann geht davon aus, daß wie im Welt-
all die göttliche Vernunft eine vollkommene Har-
monie geschaffen hat, so im Menschen die mensch-
liche und im Staat, der ein lebendiger Organismus
ist, die im Gesetz verkörperte Vernunft der Ge-
meinschaft. Die Begehung eines Verbrechens zeigt,
daß die Vernunft im Menschen die Herrschaft ver-
loren hat; sie zeigt, daß der Täter krank ist und,
da mit der Tat auch die Mitbürger betroffen wer-
den, daß auch der Staat, das Gemeinwesen krank
ist. Beide bedürfen der Heilung, denn es ist un-
vernünftig, eine Strafe auf etwas Vergangenes
zu richten, das sich doch nicht mehr ungeschehen
machen läßt. Zunächst ist Zureden, Belehrung am
Platz, eventuell erst Strafe, bei Unheilbaren Rei-
nigung des Staats vom Verbrecher durch Landes-
verweisung oder Todesstrafe. Zweck der Strafe
ist also Besserung. Die Bestrafung übt außer-
dem auchaabschreckende Wirkung auf die Mitbürger;
doch ist diese nicht Grund und Zweck der Strafe,
sondern nur eine von selbst sich einfindende Be-
gleiterscheinung. Des Plato großer Schüler Ari-
stoteles wendet sich zunächst gegen die Strafe als
Vergeltung, Talion, im Sinn der Ppythagoreer
und geht dann selbst von zwei Gesichtspunkten aus.
Einmal ist ihm die Gerechtigkeit die Seele der
staatlichen Ordnung. Sie stellt, sei es als aus-
teilende (distributive), sei es als ausgleichende
(kommutative) Gerechtigkeit, die Gleichheit der
Bürger her. Aufgabe der letzteren ist es, den durch
eine Gesetzesübertretung verursachten Schaden durch
die Strafe auszugleichen. Sodann aber ist ihm,
wie Plato, die Strafe ein Mittel zur Heilung des
Verbrechers, das gegen ihn, nicht, wie bereits ge-
sagt, als Vergeltung, sondern zu dem Zweck an-
gewendet wird, um den Ubeltäter zum Guten an-
zuhalten. Deswegen wird die Strafe, im Gegensatz
Strafe usw.
262
zur Rache, die im Interesse des Nächers stattfindet,
im Interesse des Bestraften angewendet. Zugleich
ist sie ein Mittel zur Abschreckung von der Ver-
brechensbegehung, und zwar sowohl für die ein-
zelnen als auch für die Gesamtheit, indem statt
der Lust zum Bösen durch das Gesetz mit der zu
erwartenden Strafe eine entsprechende Unlust er-
weckt wird. — Die römischen Philosophen und
Juristen sprachen sich nur gelegentlich über die
Frage aus. Für Cicero ist die Strafe Besserungs-,
aber noch mehr Abschreckungsmittel. Seneca, der
sich mit Plato zu dem Grundsatz bekennt, daß es
unvernünftig sei, Vergangenes zu strafen (nemo
prudens punit, quia peccatum est, sed ne pec-
cetur), stellt dagegen den Besserungszweck vorauf;
nach ihm ist die Strafe Wohltat, dergestalt, daß
selbst die Todesstrafe als eine solche für den im
äußersten Fall damit zu Bestrafenden zu betrachten
ist. Die Mehrzahl der Pandektenjuristen endlich
sieht in der Strafe ein Abschreckungsmittel, einige
auch ein Besserungs= und wieder andere ein Prä-
ventionsmittel; nur wenigen gilt sie als Vergel-
tung. — Die leitende Idee der Philosophie des
Mittelalters steht, wie nicht anders zu erwarten,
in vollster Ubereinstimmung mit den Grundan-
schauungen der herrschend gewordenen Kirche. In
deren Sinn bezwecken alle Strafen Besserung des
Fehlenden, Zurückführung des Irrenden zu der
Kirche und zu Gott. Daher konnten denn nach
der Ansicht der scholastischen Philosophie, nament-
lich der des hl. Thomas von Aquin, auch die welt-
lichen Strafen in der Hauptsache nur poenae
medicinales sein, die den Zweck hatten, den Ver-
brecher zu heilen. Und auch da, wo die staatliche
Strafe in ihrer Härte über diesen Zweck hinaus-
zugehen schien, entsprach sie doch der göttlichen
Gerechtigkeit, indem sie auf den göttlicher Willens-
meinung entsprechenden Staat als ihren Ursprung
zurückzuführen ist. Es muß aber hervorgehoben
werden, daß sich diese Philosophie nur sehr wenig
und andeutungsweise mit der Strafe und ihrem
Zweck beschäftigt hat.
b) Erst geraume Zeit nach Beginn der Re-
formationsbewegung fangen Philosophie und
Rechtswissenschaft wieder an, die Frage eingehen-
der zu erörtern; seitdem beschäftigen sie sich damit
aber auch unausgesetzt und mit großer Lebhaftig-
keit. Hugo Grotius (1583/1645) war der erste,
der sich wieder mit ihr befaßte, zugleich auch der
erste, der eine vollständige Strafrechtstheorie auf-
stellte. Seitdem aber entstanden Theorien in großer
Zahl. Sie lassen sich zum Teil nur schwer einander
gegenüberstellen, „da“, wie Feuerbach-Mittermaier
bemerkt, „die Theorien ineinander fließen und die
Begründer einer Theorie gewöhnlich selbst, die
Gefahr der konsequenten Durchführung ihres auf-
gestellten Prinzips erkennend, durch Hereinziehen
eines andern Prinzips die Einwendungen zu be-
seitigen suchen"“. Das Werk der eben genannten
Schriftsteller zählt unter verschiedenen Sammel-
bezeichnungen 22, Hepp desgleichen 26, v. Holtzen-
9 *