Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

385 Tatsachen, 
daß eine vierteljährige Kündigungsfrist vorge- 
schrieben ist. Worauf es für die Festigung des 
Vertragsverhältnisses ankommt, das ist natürlich 
nicht die Langfristigkeit — die hängt lediglich ab 
von Gewerbeeigentümlichkeiten und Konjunktur- 
aussichten —, sondern das beiderseitige Bewußtsein, 
daß während der vielleicht auch nur kurzen Zeit 
der Vertragsdauer die Vereinbarung für beide 
zwingend sein soll. Die durchschnittliche Vertrags- 
dauer ist sogar in letzter Zeit, wie das Reichs- 
arbeitsblatt glaubt feststellen zu können, etwas 
zurückgegangen, was sich großenteils erklären mag 
aus den geschäftlichen Schwankungen der letzten 
Jahre. Außer Unterschrift und Vertragsdauer 
gehört zu den Vertragsmerkmalen noch, daß In- 
stanzen vorgesehen sind zur Beilegung von Streitig- 
keiten über die Vertragsauslegung und-Anwendung, 
wo möglich auch solche Instanzen, die eine künftige 
Erneuerung des Vertrags rechtzeitig vorbereiten, 
um so einer tariflosen Zeit und aufreibenden Lohn- 
kämpfen vorzubeugen. Diese Organe werden 
naturgemäß früher oder später neben ihren ur- 
sprünglich richterlichen Befugnissen auch heran- 
gezogen zur Tarifverbreitung, zur Mitarbeit an 
der Vervollkommnung der Vereinbarungen, oft 
sogar zur paritätischen Arbeit im Interesse des 
gesamten Gewerbes: Preisreglung, Arbeitsver- 
mittlung u. dgl. m. Im Ausbau dieses tarif- 
lichen Verwaltungsapparats stehen die über das 
ganze Reichsgebiet geltenden Verträge von vorn- 
herein am höchsten, weil sie neben den lokalen 
auch zentrale Schiedsämter haben müssen. Die 
alt bewährten und bewußt an der Sanierung der 
gesamten Gewerbeverhältnisse arbeitenden Tarif- 
gemeinschaften wie z. B. die der Buchdrucker, be- 
trauen ihre Körperschaften auch mit den weitest 
gehenden Aufgaben und ergänzen sie gegebenen- 
falls durch neue Organe. So haben die Buchdrucker 
jetzt ein zentrales Tarifamt mit juristischem Beirat 
als Exekutive; einen tarifbildenden und dauernd 
an der Vertragsvervollkommnung arbeitenden 
Tarifausschuß aus Vertretern aller Tarifkreise 
(Gewerbebezirke); daneben Kreisämter, die diesen 
Ausschuß unterstützen, örtliche Ansprüche der Zen- 
trale übermitteln, vor allem die lokalen Lohn- 
zuschläge regeln, kurz: die dem Zentralismus des 
Ausschusses gegenüber das föderalistische Ver- 
fassungselement bilden; örtliche Schiedsgerichte, 
die Differenzen in erster Instanz beilegen, während 
in zweiter und letzter das Tarifamt entscheidet; 
paritätische Arbeitsnachweise; schließlich Ehren- 
ämter zur Bekämpfung der Schleuderkonkurrenz, 
die ebenfalls Arbeitervertreter haben. Derart aus- 
gebauten Gebilden wird man auf die Dauer 
Hintt ohne Gefahr den rechtlichen Schutz versagen 
ürfen. 
Der Inhalt der Tarifverträge ist je nach Beruf 
und der sozialen Entwicklung innerhalb desselben 
sehr verschieden. Es gibt heute kaum eine Einzel- 
heit des individuellen Arbeitsvertrags, die nicht 
da oder dort ihre tarifliche Normativreglung ge- 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
  
vollendete. 386 
funden hätte. Lohn, Arbeitszeit, Uber-, Nacht- 
und Sonntagsarbeit sind die üblichsten; dazu 
kommen Lohnzuschläge für besondere Leistungen, 
Entschädigung für unverschuldetes Warten auf Ar- 
beit, § 616 des B.G.B. (kein Lohnverlust infolge 
unverschuldeter geringfügiger Arbeitsversäumnis), 
Bestimmungen des Arbeiterschutzes und solche 
sanitärer Natur, Lohnzahlung, Lehrlingsverhält- 
nisse, zuweilen auch Stellung der gelernten Ar- 
beiter zur männlichen und weiblichen Hilfsarbeit, 
nicht zuletzt, wenngleich noch relativ selten, Arbeits- 
vermittlung. 
Das Streben nach Festigung des Korporativ- 
vertrags, das zu einem gewissen Schematismus 
führen könnte, hat neuerdings Tendenzen modern- 
ster Art ausgelöst. Man trachtet danach, unter 
Beibehaltung der Gültigkeit der formalen Ver- 
tragsbestimmungen den Vertragsinhalt mehr an- 
passungsfähig an die jeweiligen wirtschaftlichen 
und technischen Bedürfnisse zu gestalten, indem 
man während der Tarifdauer durch paritätische 
Körperschaften jene Anderungen vornehmen läßt, 
die durch technische und Konjunkturverschiebungen 
erfordert werden. So findet sich die schnelllebige 
gewerbliche Entwicklung ab mit dem notwendigen 
Konservatismus der gewerblichen Ordnung. 
Gerade bei vollkommeneren Tarifgemeinschaften 
hat sich häufig der Drang nach Ausschluß Un- 
organisierter von dem Genuß des Vereinbarten 
geltend gemacht hat, zuweilen gar bis zum Organi- 
sationsterrorismus und zum Zurückdrängen von 
Minderheitsorganisationen geführt. Derartige 
Maßnahmen können verwerflicher Intoleranz ent- 
stammen, aber auch dem in gerader Linie der 
Entwicklung des Tarifgedankens liegenden Be- 
mühen, Lohndruck und Schmutzkonkurrenz gewalt- 
sam fernzuhalten, durch Entziehung der Arbeits- 
kräfte die preisdrückenden Firmen, durch Ver- 
weigerung der Einstellung die lohndrückenden 
Arbeiter zurückzuführen zu ihren Pflichten gegen- 
über der Gesamtheit der Gewerbe= und Standes- 
genossen und auch gegenüber dem eignen Ich; 
nur von Fall zu Fall läßt sich ein sittliches Urteil 
über jene Maßnahmen fällen. Jedenfalls machen 
sie die Stärkung und gewerkschaftliche Diszipli- 
nierung der Minderheitsorganisationen notwendig. 
Literatur. Fanny Imle, Gewerbl. Friedens- 
dokumente, Entstehungs- u. Entwicklungsgeschichte 
der Tarifgemeinschaften in Deutschland (1905); dies., 
Die Tarifgemeinschaften zwischen Arbeitgebern u. 
Arbeitnehmern (1907); Brogsitter, Der Tarifver- 
trag (1906); Schall, das Privatrecht der Arbeiter- 
tarifverträge (1907); Sinzheimer, Der korporative 
Arbeitsnormenvertrag (2 Bde, 1907/08); Köppe, 
Der Arbeitstarifvertrag als Gesetzgebungsproblem 
1908). 
55) Tarifvertrag im Deutschen Reich, bearbeitet 
im Kaiserl. Statist. Amt (3 Bde, 1906); Reichs- 
arbeitsblatt, hrsg. vom Kaiserl. Statist. Amt. 
[Fanny Imle.] 
Tatsachen, vollendete. Die Anerken- 
nung natürlicher Rechte und natürlicher sittlicher 
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