Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

durch Fernspruch gebeten. Aus Vorsicht soll es erst am fin- 
steren Abend sein. Denn ein feindlicher Fesselballon steht 
an der peinlichsten Stelle, und sobald der Beobachter Men- 
schen im oder am Dorfe erblickt, lenkt er die gut einge- 
schossenen Geschütze dorthin. Um das Reitpferd nach dem 
gestrigen mehrstündigen und stellenweise schärferen Ritt zu 
schonen, wird ein kleiner, leichter Einspänner genommen. 
Als wir uns dem erstrebten Dorfe nähern, schlagen schon 
nahe bei unserem Wagen einige Granaten ein. Wir warten, 
gegen Sicht gedeckt. Dann in schnellerer Fahrt zu einem 
Waldstück, in dem Bursche und Wagen bleiben. Den letzten 
Kilometer zu Fuß und im Eilschritt. Im Quartiere des 
Hauptmanns erfahre ich das Nähere. Drei Mann sind 
durch eine Granate getötet; einer ein Unteroffizier mit dem 
Eisernen Kreuze erster Klasse, ein zweiter der Bruder eines 
Mannes, der bei derselben Kompagnie steht, ein Gefreiter, 
der Frau und Kinder daheim hat. Auch verwundet sind 
noch mehrere durch dasselbe Geschoß. Zu dem kleinen 
Soldatenfriedhof, der am Eingang des Dorfes angelegt 
ist, sollen nur einzelne Freiwillige, und auch sie nicht ge- 
schlossen, zur Feier gehen. Die Feier muß kurz sein; ein 
paar Bibelwortesind 
383 
jedem Abschuß. Nach längerem Fußmarsche noch ein vor- 
sichtiger Heimritt in der Nacht. 
Solche Züge kann jeder Feldgeistliche in langer, langer 
Reihe erzaͤhlen. Sie sollen zu dem Berichte über das 
Amtswirken nur wenige aus der Menge herausgegriffene 
Anschauungsproben geben. 
Die Zahiĩ gottesdienstlicher Feiern belief sich bei unserer 
Division durchschnittlich auf 20—25 im Monat für einen 
Feldgeistlichen. Die Bewertung solcher Zahlen hängt frei- 
lich sehr von den Entfernungen, den Geländeverhältnissen 
und besonders von der Art der Ausführung des Predigt- 
dienstes an den einzelnen Frontstellen ab. Aus den fast 
übergroßen Zahlen heben sich einzelne Feiern hervor, z. B. 
die christlichen hohen Feiertage an der Front oder Sieges- 
tage oder schlichte, tiefinnerliche Feiern für Truppen, die 
aus schweren Kampftagen wiederkehren, oder Feiern, bei 
denen ihre kriegerische Umgebung, wie gänzlich verwüstete 
Städte oder besondere Schlachtstätten oder starkes 
Trommelfeuer in der Nähe, den Eindruck vertieft, oder 
wenn etwa ein Regiment aus dem Dioisionsverbande aus- 
schied und nach einem letzten Gottesdienste in ungewisse 
Fernen zieht, oder 
  
hier am wirksamsten. —-, 
Wir haben gerade 
beisinkender Finster- 
nis die Feier be- 
gonnen, als wieder 
der Feuerüberfall be- 
ginnt. Doch noch gilt 
er den entfernteren 
Gräben. Aber jetzt 
schlägt eine Granate 
unmittelbar neben 
uns ein. Die Ge- 
meinde zerstiebt. 
Zum nächsten Unter- 
stand! Aber wo ist 
dieser? Ich kannte 
nur den weiter ab- 
wärts gelegenen des 
Bataillonsstabes. Es 
gelingt aber, die 
Trauergemeinde bald im Unterstand der Kompagnie zu 
vereinigen. Jedoch zwei Mann fehlen. Einer kommt 
mit einer Kopfwunde herzu; der Nackenschutz des Helmes 
hat das Sprengstück geschwächt. Ein zweiter wird länger 
vermißt. Er ist in die offene Gruft auf die drei Särge 
gestürzt und hat erst von seinem Hauptmann herausgeholt 
werden müssen. Doch hier im Unterstand hielten wir nun 
Totenfeier und Gottesdienst zugleich. Psalm 91 beschreibt 
ja den einzigen wirklich bombensicheren Unterstand, dem 
jeder sich und die Seinen anvertrauen kann. Über Psalm 91 
also eine eigenartige, kurze Feier und ein anschließendes 
Gebet, das bei allen wohl wirklich Gebet war. Hernach 
drängte der Heimweg. Es empfahl sich, eine Feuerpause zu 
benutzen. Aber während ich mit dem Bruder des Gefallenen 
aus dem Dorfe dem Waldstücke und meinem Wagen zu- 
gehe, wurde gerade dieser Zugangsweg beschossen. Mit 
tiefem Danke für die einzigartige gottesdienstliche Gelegen- 
heit und für gnädige Bewahrung fuhr ich dann noch eine 
kleine Stunde nach dem Quartier zurück. Der dritte Tag 
brachte ähnliche Erlebnisse und eine ähnliche Aufgabe. Auf 
einem Waldfriedhofe, der nur etwa s00 Meter vom Feinde 
ab lag, war eine Feier bei sinkender Nacht zu halten; vor- 
sichtig, mit gedämpfter Stimme. Der Rückweg führte 
durch den nächtlichen Wald und über einen steilen Saum- 
pfad, auf dem Pfarrer wie Bursche sein Pferd hinter sich 
herzogen. Wir mußten an einem Berghalse nahe an unseren 
feuernden Geschützen vorbei, und die Pferde scheuten bei 
  
Soldatengräber vor Dpem 
wenn der Feldgeist- 
liche auf Truppen- 
teile fremder Ver- 
bände stieß, die durch 
eigenartige Ver- 
kettung von Umstän- 
dden seit langer Zeit 
ohne Gottesdienste 
gewesen waren und 
um so verlangender 
die Gelegenheit er- 
griffen. So hat z. B. 
der Erzähler einige 
Monate lang auch 
eEeine boyerische Bri- 
gade mitversorgt, 
sowie eine ganze 
Anzahl preußicher 
Regimenter: Süd- 
deutsche, Mittel- 
deutsche, Norddeutsche in trauter, auch christlicher Ge- 
meinschaft. 
Auch hier ein Beispiel von solchen besonderen Feiern. 
Eine Truppe ist von grausig schweren Tagen aus der 
Champagne wiedergekommen und begehrt einen Gottes- 
dienst. Wie ernst, andächtig, still ergriffen sitzen diese 
Feldgrauen in einer geräumigen Kirche. Wie erhebt sich 
ihr Choral! Jeder einzelne kann sein Leben neugeschenkt 
hinnehmen. Sie gedenken der Heimat, in der die Lieben 
für sie beten, und der gebliebenen Kameraden, mit denen 
sie in die Schlacht gezogen sind. Die Predigt will den christ- 
lichen Ertrag solcher Erlebnisse ziehen. Sie fragt, ob das 
alte Lied der Freiheitskriege nicht recht hat: „Wer ist ein 
Mann? Der beten, glauben, lieben, sterben kann.“ Zwei- 
mal hat die Predigt ihren Fortgang unterbrochen, um die 
Kämpfer ihren Lobpreis und ihr Gedenken selber aus- 
sprechen zu lassen. Nach der Auswahl des leider so dünnen 
Feldgesangbuches sangen wir zwischen den Predigtabschnit- 
ten zuerst: „Nun danket alle Gott“, hernach als Gedenk- 
lied für die Gefallenen: „Jesus, meine Zuversicht“. Nach 
dem Gottesdienste klang die Feier in manchen Gesprächen 
nach. „Einzig und allein mein Christentum hat mich ge- 
stärkt, durchzuhalten,“ beteuerte der Kommandeur der tap- 
feren Truppe, und — soweit Menschenaugen zu sehen 
vermochten — waren alle damit einverstanden: „Wer ist 
ein Mann? Der beten, glauben, lieben, sterben kann.“
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.