durch Fernspruch gebeten. Aus Vorsicht soll es erst am fin-
steren Abend sein. Denn ein feindlicher Fesselballon steht
an der peinlichsten Stelle, und sobald der Beobachter Men-
schen im oder am Dorfe erblickt, lenkt er die gut einge-
schossenen Geschütze dorthin. Um das Reitpferd nach dem
gestrigen mehrstündigen und stellenweise schärferen Ritt zu
schonen, wird ein kleiner, leichter Einspänner genommen.
Als wir uns dem erstrebten Dorfe nähern, schlagen schon
nahe bei unserem Wagen einige Granaten ein. Wir warten,
gegen Sicht gedeckt. Dann in schnellerer Fahrt zu einem
Waldstück, in dem Bursche und Wagen bleiben. Den letzten
Kilometer zu Fuß und im Eilschritt. Im Quartiere des
Hauptmanns erfahre ich das Nähere. Drei Mann sind
durch eine Granate getötet; einer ein Unteroffizier mit dem
Eisernen Kreuze erster Klasse, ein zweiter der Bruder eines
Mannes, der bei derselben Kompagnie steht, ein Gefreiter,
der Frau und Kinder daheim hat. Auch verwundet sind
noch mehrere durch dasselbe Geschoß. Zu dem kleinen
Soldatenfriedhof, der am Eingang des Dorfes angelegt
ist, sollen nur einzelne Freiwillige, und auch sie nicht ge-
schlossen, zur Feier gehen. Die Feier muß kurz sein; ein
paar Bibelwortesind
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jedem Abschuß. Nach längerem Fußmarsche noch ein vor-
sichtiger Heimritt in der Nacht.
Solche Züge kann jeder Feldgeistliche in langer, langer
Reihe erzaͤhlen. Sie sollen zu dem Berichte über das
Amtswirken nur wenige aus der Menge herausgegriffene
Anschauungsproben geben.
Die Zahiĩ gottesdienstlicher Feiern belief sich bei unserer
Division durchschnittlich auf 20—25 im Monat für einen
Feldgeistlichen. Die Bewertung solcher Zahlen hängt frei-
lich sehr von den Entfernungen, den Geländeverhältnissen
und besonders von der Art der Ausführung des Predigt-
dienstes an den einzelnen Frontstellen ab. Aus den fast
übergroßen Zahlen heben sich einzelne Feiern hervor, z. B.
die christlichen hohen Feiertage an der Front oder Sieges-
tage oder schlichte, tiefinnerliche Feiern für Truppen, die
aus schweren Kampftagen wiederkehren, oder Feiern, bei
denen ihre kriegerische Umgebung, wie gänzlich verwüstete
Städte oder besondere Schlachtstätten oder starkes
Trommelfeuer in der Nähe, den Eindruck vertieft, oder
wenn etwa ein Regiment aus dem Dioisionsverbande aus-
schied und nach einem letzten Gottesdienste in ungewisse
Fernen zieht, oder
hier am wirksamsten. —-,
Wir haben gerade
beisinkender Finster-
nis die Feier be-
gonnen, als wieder
der Feuerüberfall be-
ginnt. Doch noch gilt
er den entfernteren
Gräben. Aber jetzt
schlägt eine Granate
unmittelbar neben
uns ein. Die Ge-
meinde zerstiebt.
Zum nächsten Unter-
stand! Aber wo ist
dieser? Ich kannte
nur den weiter ab-
wärts gelegenen des
Bataillonsstabes. Es
gelingt aber, die
Trauergemeinde bald im Unterstand der Kompagnie zu
vereinigen. Jedoch zwei Mann fehlen. Einer kommt
mit einer Kopfwunde herzu; der Nackenschutz des Helmes
hat das Sprengstück geschwächt. Ein zweiter wird länger
vermißt. Er ist in die offene Gruft auf die drei Särge
gestürzt und hat erst von seinem Hauptmann herausgeholt
werden müssen. Doch hier im Unterstand hielten wir nun
Totenfeier und Gottesdienst zugleich. Psalm 91 beschreibt
ja den einzigen wirklich bombensicheren Unterstand, dem
jeder sich und die Seinen anvertrauen kann. Über Psalm 91
also eine eigenartige, kurze Feier und ein anschließendes
Gebet, das bei allen wohl wirklich Gebet war. Hernach
drängte der Heimweg. Es empfahl sich, eine Feuerpause zu
benutzen. Aber während ich mit dem Bruder des Gefallenen
aus dem Dorfe dem Waldstücke und meinem Wagen zu-
gehe, wurde gerade dieser Zugangsweg beschossen. Mit
tiefem Danke für die einzigartige gottesdienstliche Gelegen-
heit und für gnädige Bewahrung fuhr ich dann noch eine
kleine Stunde nach dem Quartier zurück. Der dritte Tag
brachte ähnliche Erlebnisse und eine ähnliche Aufgabe. Auf
einem Waldfriedhofe, der nur etwa s00 Meter vom Feinde
ab lag, war eine Feier bei sinkender Nacht zu halten; vor-
sichtig, mit gedämpfter Stimme. Der Rückweg führte
durch den nächtlichen Wald und über einen steilen Saum-
pfad, auf dem Pfarrer wie Bursche sein Pferd hinter sich
herzogen. Wir mußten an einem Berghalse nahe an unseren
feuernden Geschützen vorbei, und die Pferde scheuten bei
Soldatengräber vor Dpem
wenn der Feldgeist-
liche auf Truppen-
teile fremder Ver-
bände stieß, die durch
eigenartige Ver-
kettung von Umstän-
dden seit langer Zeit
ohne Gottesdienste
gewesen waren und
um so verlangender
die Gelegenheit er-
griffen. So hat z. B.
der Erzähler einige
Monate lang auch
eEeine boyerische Bri-
gade mitversorgt,
sowie eine ganze
Anzahl preußicher
Regimenter: Süd-
deutsche, Mittel-
deutsche, Norddeutsche in trauter, auch christlicher Ge-
meinschaft.
Auch hier ein Beispiel von solchen besonderen Feiern.
Eine Truppe ist von grausig schweren Tagen aus der
Champagne wiedergekommen und begehrt einen Gottes-
dienst. Wie ernst, andächtig, still ergriffen sitzen diese
Feldgrauen in einer geräumigen Kirche. Wie erhebt sich
ihr Choral! Jeder einzelne kann sein Leben neugeschenkt
hinnehmen. Sie gedenken der Heimat, in der die Lieben
für sie beten, und der gebliebenen Kameraden, mit denen
sie in die Schlacht gezogen sind. Die Predigt will den christ-
lichen Ertrag solcher Erlebnisse ziehen. Sie fragt, ob das
alte Lied der Freiheitskriege nicht recht hat: „Wer ist ein
Mann? Der beten, glauben, lieben, sterben kann.“ Zwei-
mal hat die Predigt ihren Fortgang unterbrochen, um die
Kämpfer ihren Lobpreis und ihr Gedenken selber aus-
sprechen zu lassen. Nach der Auswahl des leider so dünnen
Feldgesangbuches sangen wir zwischen den Predigtabschnit-
ten zuerst: „Nun danket alle Gott“, hernach als Gedenk-
lied für die Gefallenen: „Jesus, meine Zuversicht“. Nach
dem Gottesdienste klang die Feier in manchen Gesprächen
nach. „Einzig und allein mein Christentum hat mich ge-
stärkt, durchzuhalten,“ beteuerte der Kommandeur der tap-
feren Truppe, und — soweit Menschenaugen zu sehen
vermochten — waren alle damit einverstanden: „Wer ist
ein Mann? Der beten, glauben, lieben, sterben kann.“