Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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großen Bärten. Als erstes Lied sangen wir das trutzige 
Lutherlied „Ein feste Burg“. Wie das klang! Es war ein 
Erlebnis, dieser Gesang auts 800 Männerkehlen und Män- 
nerhergen. Es klung so urgewal:ig. Mir war's, als bebten 
dabei Mauern und Pfeiler des Gotteshauses; die Fenster 
klirrten leise. Die tiefste Seele wurde erschüttert. Oben auf 
dem Orgelchor der französische Geistliche! Ich sehe ihn 
noch: das blasse Angesicht weit vorgebeugt. die kohlschwar- 
zen Augen weit aufgerissen, als staune er über diesen Ge- 
sang, der wie ein Orkan brauste, wie eherner Glockenschall 
stürmte. Er muß es seinem Amtsnachbar in Namécourt 
erzählt haben. Als ich dort ein paar Tage später Gottes- 
dienst hielt, ließ mich der Ortopfarrer bitten, ich möchte 
ihm die Beteiligung am Gotteodienst gestatten, er wolle 
gern einmal die deutschen Soldaten singen hören. 
Noch eins: das 3. Bataillon 101 war müde, durchfroren, 
abgekämpft aus der Hölle der Sommesschlacht auf ein paar 
Tage nach Mesnil-St.-Nicaise in Ruhe gelegt worden. Am 
ersten Nuhetag erbat es und erhielt es einen Gotteodienst, 
der vielen ein Herzensbedürfnis war. Wir stimmten zuerst 
das Paul Gerhardtsche „Befiehl du deine Wege“ an. Hin- 
ein grollte unablässig von vorn das Trommelfeuer der 
Schlacht, die Fenster klirrten immer wieder schrill nach 
dem Einschlag schwerer Granaten, mit denen der Franzose 
die Dörfer vorn und die Batteriestellungen abstreute. Wie 
doch so ein Lied in solcher Lage zum Herzen redet, und wie 
es gesungen wird! Es wirkt wie eine Offenbarung tiefster, 
berzbewegender und herzerhebender Gedanken Gottes. 
Hinterher gestand mir ein Kriegsfreiwilliger, ein junger 
Lehrer, wie ihm dies Lied einmal innerlich geholfen habe. 
Er hatte Goethes Faust in der Tasche, als er in den 
Schützengraben ging. Aber unter dem Trommelfeuer der 
Sommeschlacht empfand er blar: der Faust kann dir jetzt 
nicht helfen, er kann dir keine innere Kraft geben, die du 
so notwendig brauchst. Einmal, an besonders schweren Stun- 
den, wo er mit dem Leben schon abgeschlossen hatte und 
Bangen und Zagen sich seiner bemächtigte, ist ihm auf ein- 
mal das Lied in der Seele aufgeklungen: Befiehl du deine 
Wege. Er sagte sichs Vers für Vers vor und spürte, wie 
aus den Worten des Lieds Kraft in sein Herz strömte. Er 
bekannte: „Vorher ließen mich die Worte völlig kalt, jetzt 
fühlte ich tief, was für ein Reichtum und für eine Kraft 
in den schlichten Worten liege.“ 
Die allgemeine kriftige Bet:iligung unserer Sachsen am 
Kirchengesang, die Sicherheit in der Melodie, auch die Be- 
herrschung des Textes vieler Lieder war mir ein Beweis, 
daß Schule und Kirche ihre Pflicht getan und dem jungen 
Volk in manchem alten schönen Kirchenlied einen wertvollen 
Schatz mitgegeben hatten, der draußen im Feld seinen Wert 
offenbarte. 
Aus der Frühjahrsoffensive 1018 
O. Niedner, Dieisionspfarrer a. D. der 24. Infanteriedivision 
Es war der Befehl erlassen: „1. Angriffstag ist der 
21. März, die Infanterie greift 9, 15 vormittags an. Leit- 
batterien standen vorn auf festem — vielfach betoniertem — 
Untergrund, die eingeschossen waren, die anderen fuhren 
dann bloß daneben auf und empfingen von ihnen die Schuß- 
korrekturen. Die feindlichen Linien — alles klappte vor- 
züglich — wurden schon am 21. viele Kilometer tief ein- 
gedrückt, leider hielten, wie man später erfuhr, mehrfach 
englische Proviantämter und Verpflegsmagazine die vor- 
wärtosiürmenden Kompagnira wirkungsvoller auf als feind- 
liche Geschütze und Maschinengewehre, und es ist manchmal 
für die Offiziere schwer gewesen, die Leute, die sich an lange 
nicht gesehenen Herrlichkeitten — Schokolade, Cornedbeef, 
Schinken, eingemachten Früchten — gütlich taten und Tor- 
nister und Brotbeutel damit vollstopften, wieder herauszu- 
bringen und zum Weterrücken zu bewegen. Die 7 1. In- 
fanteriedivision hatte sich, wie nicht anders zu erwarten, 
wieder — besondero bei Irles — glänzend geschlagen. Divi- 
sionöpfarrer Klesse und ich befanden und zu unserem leb- 
haften Mißvergnügen — aber Befehl ist Befehl — am 
26. mittags noch in Sailly westlich Cambrai bei der großen 
Bagage. Wir fieberten förmlich danach, zu unseren Trup- 
pen oder doch wenigstens in deren Nähe zu kommen. End- 
lich, kurz vor 2 Uhr nachmittags erfuhren wir, daß das 
Feldlazarett 7, dem wir uns für diesen Fall anschließen 
sollten, in einer Viertelstunde nach Beaulancourt bei Ba- 
paume abrücke, um dort eingesest zu werden. 
In fliegender Eile wurde eingepackt, aber mit dem An- 
spannen ging es doch nicht ganz so schnell, das Lazarett 
war abgerückt, ehe wir fertig waren, wir mußten und den 
Weg allein suchen, über Bourlon — das wundervolle, 
wuchtige Schloß Bourkon mit seinen mächtigen Ecktürmen 
zeigte in Dach und Mauerwerk klaffende Löcher —, hinter 
dem Ort lagen die ersten Toten am Weg, meist deutsche 
Soldaten, die Achselstücke trugen die Nummern 107, 104, 
56 — Moevre, Boursies, Beugny und Villers-au-Flos. 
Ungeheure Massen an Material liegen herum, Stapel an 
Stapel englischer Granaten; an den Straßenrändern, wo# 
gestürmt worden ist, finden sich auffällig viel deutsche 
Stahlhelme verstreut. In dem Nuinenort Beaulancourt 
— es ist inzwischen 9,30 abends und stockdunkel gewor- 
den — ist bein Lazarett zu finden. Aber eine leidlich er- 
haltene englische Baracke, in der schon Mannschaften der 
Straßenpolizei untergekommen waren, nahm uns auf. 
Sie ist zugig und es ist bitterkalt. Ich kann trotz des 
Schlafsackes die ganze Nacht vor Kälte nicht schlafen. Am 
27. früh finden wir das Lazarett in bisher englischen Laza- 
rettbaracken recht gut untergebracht. 293 Verwundete sind 
vorhanden, die meisten recht schwere. Etwa ein Viertel von 
ihnen sind Engländer. Von unserer Dioision der brave 
Kompagnieführer der 9. Kompagnie Infanterieregiment 179 
Hauptmann Müller mit hoffnungolosem Bauchschuß, der 
in seinen Fieberphantasien sich immer noch des wunder- 
vollen Vorwärtsstürmens seiner Leute freut. Leutnant Klotz, 
auch Bauchschuß, selbst ganz hoffnungsvoll, manchmal ge- 
radezu ärgerlich über die ängstliche Besorgnis der Arzte, der 
Tüchtigsten einer — auch er hat diese Stätte des Todes nicht 
lebend verlassen — dann noch 4 oder §s Offiziere und 
etwa 60 Mann. 
Im Aufnahmezelt sind 120 Verwundete, die seit zwei 
Tagen sich im Lazarett befinden und noch kein warmes 
Essen bekommen haben, zwischen ihnen irrt lise jammernd 
ein erblindeter Engländer herum. — Uber Kübel mit Ent- 
leerungen und Haufen blutiger Garderobestücke stolpert der 
Fuß. Zwischen den Lebenden liegen vereinzelt Tote, die zum 
Teil schon am Tage vorher gestorben waren, aber es war 
noch keine Kraft verfügbar gewesen, sie wegzuschaffen. 
Einen Toten haben unsere Leute hinausgetragen, der schon 
vor vier Tagen gestorben war. Betrat man den Raum, 
und genau so war es bei allen anderen Lazarettzelten, so 
schrien 3o S.immen, l##e und laut, flehend und wütend. 
Fast jeder hatte ein Anliegen, der wollte Wasser, der andere 
ein Stechbecken, den dritten drückte der Verband, einer hatte 
seit zwii Tagen nichts im Magen, der mit der zerschossenen 
Hand bat eine Karte zu schreiven an seine alte Mutter da- 
heim, viele froren, ihnen konnte geholfen werden, es lagen 
ja Hunderte von schönen englischen Wolldecken draußen im 
Gelände herum, man rannte hinaus und kam mit einem 
tüchtigen Armvoll zurück. Groß war die Sehnsucht nach 
etwas Rauchbarem — hätte ich nur mehr Zigarren für die 
große Offensioe mitgenommen! Die loo, die ich im Koffer 
hatte, waren zu schnell vertan. Für ein Weilchen vergißt 
wohl jeder Verwundete, dem man eine Zigarre zwischen die 
Zähne stecken kann, seine Schmerzen. Ja, wenn es bloß
	        
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