Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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erwähnt, ein derartiges Abwandern ganz entschieden be- 
kämpft werden. Denn sonst kommen wir allgemach dahin, 
daß in der Hauptsache nur noch Wenigerintelligente ein 
Handwerk ausüben. 
Vielleicht haben wir bei diesem Kampfe unsere gegen- 
wärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen mit im Bunde. Wenn 
in unserer Zeit viele mehrköpfige Arbeiterfamilien ein 
Jahreseinkommen haben, das ein Vermögen bedeutet, wird 
es sich wohl mancher Vater überlegen, ob er seinen Sohn 
der Schreibstube, statt der Werkstatt zuführt. Sicherlich 
werden sich die wirtschaftlichen Gegensätze, die vielfach alles 
bisher Bestehende auf den Kopf gestellt und manche Uber- 
lieferung über den Haufen geworfen haben, nach dem Frie- 
den allmählich wieder ausgleichen. Aber auf Jahre hinaus 
wird der „Hand“-Arbeiter den „Kopf“-Arbeiter im weißen 
Kragen nicht beneiden. 
Das ist auch für unsere Kriegsbeschädigten wichtig! 
Eine andere Ursache, die vielen eine gewisse Scheu vor 
körperlicher Arbeit beibrachte, ist die falsche Sorge vieler 
Begriff „Analphabet“ im vollen Sinne nur als Fremd- 
wort kennt. 
Der Schreibunterricht befaßt sich nicht nur mit Links- 
händern, d. h. mit solchen, denen die rechte Hand gänzlich 
fehlt oder für den Gebrauch nicht mehr in Frage kommt. 
Es kann sogar gesagt werden, daß diese Fälle fachtechnisch 
als die „einfachsten“ zu bezeichnen sind. Denn die linke 
Hand eine Tätigkeit ausüben zu lassen, die bisher der rechten 
uUfiel, bedarf einer verhältnismäßig nicht allzu langen 
bung. Jeder von uns hat sicher einen Bekannten, einen 
sogenannten Linkser, der mit der linken Hand genau so 
zeichnen, malen, nähen, sticken kann, wie mit der rechten. 
Und wenn er nicht links schreibt, so kommt das lediglich 
daher, daß er es noch nicht geübt hat. Wir wollen hier 
nicht den wissenschaftlichen Streit aufrollen und die Zu- 
sammenhänge untersuchen, die zwischen dem Gehirn und 
der rechten, bzw. linken Hand bestehen. Wir wollen weiter 
auch nicht den Verfechtern der „Beidarmigkeit“ (Ambi- 
dextrie) das Wort reden. Sicher hat diese Theorie durch 
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manchmal wohl 
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Willen zu über- 
zeugen, daß er 
völlig erwerbsunfähig sei und Vollrente erhalten müsse. Die 
Gespräche der Lazarettinsassen untereinander wirkten oft hier- 
bei noch aufmunternd, obschon derartige Redereien natür- 
lich jedes haltbaren Grundes entbehrten. Es hat vieler 
Belehrungen und Auseinandersetzungen ärztlicher und ziviler 
Berufsberater, unzähliger gesprochener und geschriebener 
Worte bedurft, ehe die gute Einsicht siegte. 
Aus alledem geht hervor, daß schon ein großer Schritt 
nach vorwärts getan ist, wenn der Kriegsbeschädigte über- 
haupt wieder sich der Arbeit zuwendet und sie als ein Be- 
dürfnis betrachtet. Dann erst können die Lehrwerkstätten, 
Einarmerschulen, Schullazarette und wie die Einrichtungen 
sonst noch heißen, mit ihrer Arbeit einsetzen. Soweit diese 
Veranstaltungen nicht lediglich Ziele verfolgen, die im 
Nahmen der unmittelbaren Heilbehandlung liegen, wollen 
sie die Kriegsbeschädigten entweder befähigen, den bis- 
berigen Beruf wieder auszuüben oder, wenn dies durch- 
aus nicht mehr möglich ist, die Ausbildung für eine neue 
Tätigkeit vermitteln. — 
In allerengster Verbindung mit der Heilbehandlung 
steht die Arbeit der Einarmerschulen im engeren Sinne 
des Wortes. Fierbei mus zunächst bemerkt werden, daß 
die Haupttätigkeit dieser Anstalten keineswegs in der Ver- 
mittelung des Linksschreibens besteht. Immerhin wird der 
Schreibunterricht hier eine große Rolle spielen. Kein 
Wunder, denn wir leben in einem Staate, in dem man den 
— 2 —. —— — 
Oben: Mit der linken Hand geschrielen. Unten: Geschrieben mit rechter Unterarm-Prothese. 
nißmäßig kurzer 
Zeit mit der Lin- 
ken schrciben. In 
viclen Fällen er- 
wirbt er sich sogar eine bessere Handschrift, als er vorher 
besaß, sofern ihm natürlich die richtige Unterweisung zuteil 
wird. Der Schreibunterricht der Einarmer darf keineswegs 
seine Stärke darin suchen, möglichst schnell einige äußere Er- 
folge zu erreichen. Arm und Hand müssen nicht bloß 
für das Schreiben „dressiert“, also einseitig abgerichtet 
werden, sondern die Fähigkeit erlangen, alle Verrichtungen 
schnell und sicher auszuführen, ohne daß die Muokelpartien 
einseitig ermüdet und angestrengt werden. 
Wie schon gesagt, handelt es sich hierbei nicht nur um 
Kriegsbeschädigte, die den vollständigen Verlust der Hand 
zu beklagen haben, sondern auch um solche, bei denen die 
verletzte Hand, zuerst vollständig gebrauchsunfähig, durch 
geeignete Behandlung allmählich ihre frühere Geschicklich- 
keit wenigstens zum großen Teile wieder erlangen bann. 
Das setzt selbstverständlich eine Unterweisung voraus, die 
mit dem oft üblichen oberflächlichen Schreibunterricht nichto 
gemein hat. Der Schreiblehrer wird sich zuerst ein Bild 
davon verschaffen, wie seine Schüler an die Aufgabe 
herantreten. Dabei sind die verschiedensten Erscheinungen 
zu beobachten. Einseitige Benutzung der Schreibfinger — 
die Buchstaben entstehen gewöhnlich nur durch Beugen 
und Strecken den Finger —, falsche Handlage, durch die 
wiederum die entstehende Schrift eine unnatürliche Nichtung 
erhält, unpassendes, oft sogar gänzlich unbrauchbares 
Schreibgerät (am unbrauchbarsten erweisen sich gewöhn-
	        
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