Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

schaft mit geeigneten praktischen Betrieben richten ihr 
Augenmerk zunächst auf die Fortbildung. Über die Ver- 
mittlung allgemeiner Kenntnisse und Fertigkeiten ist schon 
gesprochen worden. Viele der Zurückkehrenden waren bei 
Auöbruch des Krieges in der Ausbildung begriffen, andere 
wollen die Gelegenheit zur Weiterbildung nicht vorüber- 
gehen lassen. Hierzu kommt, daß gerade die Tertilindustrie 
durch den Ausfall der Rohstoffe vielfach in ganz neue Bah- 
nen gelenkt worden ist. Wenn auch die Annahme zutrifft, 
dab der Frieden in vieler Beziehung über kurz oder lang 
aucgleichend wirken wird, so werden doch viele Herstellungs- 
weisen und manche Ersatzstoffe sich dauernd erhalten. Mit 
diesen Errungenschaften sich vertraut zu machen, ist ein 
Gebot für jeden wirtschaftlich Vorwärtsstrebenden. Nur 
dann wird gerade die Textilindustrie auf dem Weltmarkt 
bestehen können, wenn ihr mit allen Neuerungen voll- 
ständig vertraute, allseitig durchgebildete und von dem 
Wesen, Wert und Notwendigkeit der Güte ihrer Arbeiten 
erfüllte Hilfskräfte zur Verfügung stehen. 
Wie bei anderen Berufozweigen, wäre es verfehlt, die 
allgemeine Weiterbildung der Zurückgekehrten an dem 
Punkte aufnehmen zu wollen, an welchem sie bei der Ein- 
ziehung zum Militär unterbrochen wurde. Die Verhält- 
nisse haben sich nach allen Seiten so verschoben, daß dies, 
die Möglichkeit der Ausführung vorauggesetzt, keineswegs 
erstrebenswert ist. Der Krieg hat die Menschen umge- 
staltet und ist selbstverständlich auch auf die heimkehrenden 
Arbeiter nicht ohne Einfluß gewesen. Viele haben durch 
das jahrelange militärische Leben einen Teil der früheren 
Kenntnisse verlernt, die früher erworbene Arbeitsfähig- 
kelt eingebüßt, auch wenn kein körperlicher Schaden ent- 
standen ist. Dazu kommen die Umgestaltungen in der 
Industrie, das Vorwärtsschreiten der Technik und — 
nicht zuletzt — die Veränderungen der Ausbildungs- 
gelegenheiten. Die neugeschaffenen, eigenartigen Verhält- 
nisse weisen auch hier der Ausbildung andere Wege. Eine 
Schwierigkeit besteht, wie bei allen anderen Lehrgängen, 
darin, daß die Zeit nicht, wie sonst üblich, genau festgelegt 
werden kann. Der Beginn, wenn möglich auch der Schluß der 
Ausbildung muß fortwährend erfolgen können, so daß 
der Eintritt jederzeit erfolgen kann. Der dargebotene Unter- 
richtsstoff muß knapp und klar sein, unter Weglassung 
alles Unwesentlichen. Dabei dürfen die Lehrgänge aber 
nicht nach Art der sog. „Pressen“ arbeiten, denn es gilt 
nicht für die ev. Abschlußprüfung, sondern für das Lebenl 
Soweit es sich um die Kriegsbeschädigten im engeren 
Sinne des Wortes handelt, also um diejenigen Arbeiter, 
die einen inneren oder äußeren körperlichen Schaden davon- 
getragen haben, der sie hindert, in der früheren Weise 
tätig zu sein, muß die theoretische und praktische Ausbildung 
aus einer mehr oder weniger umfassenden Umschulung 
bestehen. Im Rahmen der Textilindustrie wird ein der- 
artiges Vorgehen um so weniger Schwierigkeiten bieten, 
als hier die Zahl der Beschäftigungemöglichkeiten und 
Arbeitsvorgänge eine außerordentlich große ist. Die Aus- 
sicht, innerhalb des alten Berufes oder in unmittelbarer 
Annäherung an denselben weiterhin eine lohnende Be- 
schäftigung zu finden, ist die denkbar günstigste. In vielen 
Zweigen der Weberei bietet das Erlernen gewisser mecha- 
nischer Fertigkeiten an sich keine Schwierigkeiten und er- 
fordert einen geringen JZeitaufwand. Eine ganze Reihe 
von Arbeiten werden im Großbetrieb von Webern ver- 
richtet, die nur teilweise im Jahre in der Industrie tätig 
sind, im übrigen aber einer anderen Beschäftigung nach- 
gehen, sicher also keine umfangreiche fachtechnische Schulung 
genossen haben. Auf der anderen Seite gibt es viele Ver- 
richtungen, die so geringe Anforderungen an die körper- 
lichen Kräfte stellen, daß sie unter gewöhnlichen Verhält= 
nissen von Frauen und Kindern vollzogen werden. 
  
Kriegsbeschädigter Handsetzer wird an der Setzmaschine ausgebildet 
(Telpziger Lehrgang) 
Es kann also wohl behauptet werden, daß die Terxtil= 
industrie ihre heimkehrenden Kriegsbeschädigten fast in 
allen Fällen wieder aufnehmen und beschäftigen kann. 
Die irrige Meinung, daß der Verlust eines Gliedes die 
Weiterbeschäftigung in der Tertilindustrie ausschließe, ist 
als grundfalsch zu bekämpfen. Einmal gibt es gerade 
auf diesem Gebiete vorzügliche Ersatzglieder und Behelfs- 
mittel, die lang erprobt sind, dann aber helfen der eiserne 
Wille, die unverdrossene Ubung, die doch auch beim ge- 
sunden Menschen die Grundbedingungen zur Erreichung 
der unbedingten Herrschaft über die Glieder sind, über die 
Schwierigkeiten hinweg. Es sei hier an einen Stuhlweber 
in Glauchau erinnert, der den rechten Arm vollständig 
verloren hat. Er bedient ohne jedes Dilfömittel, auch 
ohne Prothese, zwei mechanische Webstühle und steht mit 
seinen Leistungen, sowohl in Güte als auch in der Menge, 
keineswegs hinter seinen Kameraden, die im Vollbesitz der 
Glieder sind, zurück. 
Daß bei diesen Umschulungslehrgängen in erster Linie 
auf die praktische Tätigkeit das Hauptgewicht gelegt werden 
muß, bedarf keiner weiteren Begründung. Theoretisch-fach= 
gemäße Erläuterungen sind zur Ergänzung wohl notwendig, 
sie dürfen aber nicht in den Vordergrund treten. Damit 
sollen aber keineswegs der große Wert und die Bedeutung 
der allgemeinen Bildung bezweifelt werden. Wenn die 
Ausbildungsmöglichkeiten so zusammengestellt sind, daß 
sie neben der praktischen Unterweisung und fachtheoreti- 
schen Schulung den Kriegobeschädigten auch das bieten, 
was bei den Lehrgängen für allgemeine Fortbildung be- 
sprochen wurde, so trägt dies zum Nutzen der allgemeinen 
geistigen Hebung des Bildungsstandes und der Erwerbs- 
fähigkeit der beteiligten Kreise ungemein viel bei-. 
Der allgemein als richtig anerkannte Grundsatz, Kriegs-
	        
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