Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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die Frage des Vorgehens gegen die Sperrfeste Givet er- 
ledigen. Sollte die Bezwingung von Givet nicht besser in 
den Erstangriff gegen die Maasfront einbezogen werden? 
Hätte das Ansetzen der dritten Armee direkt auf Givet 
der Obersten Heeresleitung nicht viel günstigere Verhältnisse 
geschaffen 
Der Leser nimmt zu diesen Fragen besser erst Stellung 
nach Schilderung der tatsächlichen Vorgänge. 
Die Einnahme von Givet 
(Skizze 7) 
Einen greifbaren direkten Erfolg erntete die dritte Armee 
aus der Bezwingung der Maasfront durch den beschleunigten 
Fall der französischen Maae#grenzfestung Givet. Auf deren 
Besatzung, wie überhaupt auf die ganze Bevölkerung des 
französischen Grenzgebietes hatte der überstürzte Zusammen- 
bruch der geplanten französischen Offensive und das un- 
widerstehliche Vordringen des deutschen Einfallsheeres offen- 
bar starken Eindruck gemacht. Nach dem Fall der bel- 
gischen Maasbollwerke Lüttich und Namur erschien die 
Behauptung der veralteten französischen Maassperrbefesti- 
gung von Givet auf die Dauer unmöglich. So wartete denn 
die Besatzung von Givet nur die Eröffnung des Artillerie= 
angriffes ab, um sich dann zu ergeben. 
Die Aufgabe, Givet zu nehmen, wurde vom Ober- 
kommando der dritten Armee dem Generalleutnant von 
Ehrenthal mit seiner 24. Reservedivision übertragen. Dazu 
wurden ihm das III. Bataillon Fußartillerieregiments 1 
(21-em-Mörser), zweiösterreichische Motorbatterien (30,3cm) 
und ½ II. Bataillon Fußartillerieregiments 19 (schwere 
Feldhaubitzen) sowie der General der Pioniere beim Ober- 
kommando der dritten Armee und das Pionierregiment 23 
zur Verfügung gestellt. Dagegen setzte das Neserve-Feld- 
artillerieregiment 24 mit zwei Abteilungen den Vormarsch 
mit der 23. Reservedivision fort und trat erst während der 
Marneschlacht zu seiner Division zurück. 
Die 24. Reservedivision erreichte in anstrengendem Nacht- 
marsch von Anthée her am 27. August früh das Vor- 
gelände von Givet. Schon um Mittag war die Festung 
umstellt. Die Vortruppen schoben sich nach und nach näher 
heran. Das Vorziehen der Belagerunggartillerie stieß auf 
große Schwierigkeiten. Die wenigen Gebirgsstraßen waren 
von Truppen und Kolonnen bedeckt. Die Kriegsbrücken 
erwiesen sich als zu schwach für die schweren Geschütze. 
So mußte der eigentlich gegen die Westfront beabsichtigte 
artilleristische Angriff auf der Ostfront erfolgen. Bereits 
am 29. August eröffnete das III. Bataillon Fußartillerie= 
regiments Nr. 1 mit seinen Mörsern erfolgreich das Feuer 
gegen das Fort Charlemont. Inzwischen trafen auch noch 
zwei Batterien des I. Bataillons Fußartillerieregiments 
Nr. 19, das I. Bataillon Fußartillerieregiments ? Nr. 24 
und eine österreichische 30,5-em-Mörserbatterie ein. Die 
Mörserbatterie eröffnete am 31. August 12,30 Uhr nach- 
mittags ihr Feuer. Givet brannte alsbald an meh- 
reren Stellen. Bereits 6,30 Uhr abends wurden weiße 
Flaggen sichtbar. 11 Uhr abends war die bedingungs- 
lose Ubergabe der Festung vom französischen Komman- 
danten unterzeichnet. Am 1. September 9 Uhr vor- 
mittage gingen 40 Offiziere und 2910 Mann in Gefangen- 
schaft ab. Die übrige Beute betrug allein an Festungs- 
geschützen 127 Stück. Der diesseitige Verlust war ganz 
gering. Die Pioniere hatten nur 2 Tote und 2 Verwundete, 
von der 47. Reservebrigade war 1 Offizierstellvertreter tot, 
3 Offiziere verwundet, lo Unteroffiziere und Mannschaften 
tot, 17 verwundet. Die 48. Reservebrigade hatte 1 Offizier, 
4 Unteroffiziere und Mannschaften verwundet. 
Die Festung war nicht sturmreif. Die Geschütze, Flan- 
kierungsanlagen und Wälle waren unversehrt. Die Wirkung 
der schweren Artillerie, besonders diejenige der österreichi- 
schen Mörser gegen die Häuser, hatte vollauf genügt. Be- 
sonderen Eindruck hatte auch das Schrapnellfeuer des 
I. Bataillons Fußartillerieregiments 24 gegen Fort Condé 
ausgeübt. Die französischen Mannschaften waren nicht an 
bie Geschütze zu bringen gewesen. Der Angriff war übrigens 
von Westen, nicht von Östen her erwartet worden. 
Die 24. Reservedivision beschleunigte dann mit allen 
Kräften ihren Weitermarsch, um bei der Hauptentscheidung 
zur Stelle zu sein, die nach dem vorahnenden Gefühl aller 
Mitkämpfer unmittelbar bevorstand. 
Es drängt sich die Frage auf, ob man Gioet nicht einfach 
überrennen sollte wie das ganz ähnlich gelegene, ausgebaute 
und bewehrte Sperrfort Huy (halbwegs Lüttich—Namur), 
das beim Nahen des preußischen X. Armeekorps noch vor 
Abend des 17. August von den Belgiern verlassen worden 
war. Die Frage scheint von der deutschen Obersten Heeres- 
leitung überhaupt nicht erwogen worden zu sein. 
Tatsächlich haben 2½ Bataillone Fußartillerie und zwei 
österreichische 30,5m-Mörserbatterien Givet in 2½ Tagen 
bezwungen. Die 3½ Bataillone Fußartillerie, über welche 
die dritte Armee verfügte, konnten am 22. August abends 
auf der Ostfront den Angriff beginnen. Es bestand Aus- 
sicht, selbst ohne Mitwirkung der österreichischen Mörser die 
Straßensperre Givet bis zum Morgen des 25. August zu 
öffnen oder wenigstens unwirksam zu machen. Schon 
während der Beschießung stand das ganze Wegenetz südlich 
von Givet zum Einkreisen der französischen fünften Armee 
und der Engländer zur Verfügung. 
Statt dessen keilte der Befehl der Obersten Heeresleitung 
die dritte Armee in die Lücke zwischen Namur und Giret 
ein. Diese Strecke beträgt 32 Kilometer, von den Südforts 
von Namur aus gemessen. Davon entfielen mindestens 
16 Kilometer als beste Wirkungsweite der Ferngeschütze. 
beider Festungen. Die Mittelstrecke beiderseits von Dinant 
— 16 Kilometer — war bereits seit dem 15. August als 
starkbefestigt festgestellt. Sie band in der Folge die Kampf= 
kraft der ganzen dritten Armee in entscheidender Zeit. Die 
Verantwortung dafür trifft allein die Oberste Heeresleitung, 
die erst am 23. August — zu spät, wie so oft in diesem 
Kriege — der dritten Armee die Ausdehnung nach links, 
südlich von Givet freigab. 
Den Gang der Ereignisse für den Fall, daß die dritte 
Armee von vornherein auf Givet angesetzt worden wäre, 
weiter zu durchdenken, kann dem Leser nach Kenntnis des 
Verlaufs der Ereignisse überlassen bleiben. 
Für mich besteht kein Zweifel, daß die deutsche „Zange“ 
mit den Backenstücken Mons—Maubeuge (erste und zweite 
Armee) und Givet—Rocroi (dritte Armee) um das Gelenk- 
stück Namur (Gallwitz) den linken französisch-englischen 
Heeresflügel hätte abkneifen können, wie es ähnlich der 
Generaloberst von Hindenburg in der folgenden August- 
woche im Osten fertigbrachte. 
Daß es nicht geschah, fällt lediglich der Obersten Heeres- 
leitung zur Last, beineswegs den Oberbefehlshabern der 
zweiten und dritten Armee. Für eine solche weitausgreifende 
Heereobewegung bedurfte es straffer Leitung, nicht des 
einfachen Hinweises auf „Vereinbarungen zwischen den 
Oberkommandos 2 und 3 zwecks übereinstimmenden An- 
griffs“ (Befehl vom 20. August, Seite 28). 
Die Leistungen der dritten Armee ebenso wie die der 
Hindenburg-Armeen in der Winterschlacht in Masuren unter 
den denkbar schwierigsten Boden= und Wetterverhältnissen 
im Februar lols beweisen, daß die Anforderung an die 
Marschleisiung des deutschen rechten Flügels, Südost- 
schwenkung aus der Linie Ninove—Jemeppe bis über die 
Sambre beiderseits von Maubeuge hinaus im August 1914 
sicherlich nicht unerfüllbar gewesen wäre. 
Die deutsche Oberste Heeresleitung rechnete mit sechs
	        
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