Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

dürfen über den geringen strategischen Gewinn des bis- 
herigen deutschen Vormarsches bis über die Marne hinaus 
nicht hinwegtäuschen. 
Der leitende Gedanke der deutschen Offensive war die 
Absicht gewesen, das gesamte feindliche Feldheer durch 
fortgesetzten Druck auf seine linke Flanke nach Südosten 
abzudrängen, zusammenzupressen und über die Schweizer 
Grenze zu werfen. Er war nicht voll zur Durchführung 
gekommen troß der deutschen Uberlegenheit von 46 In- 
fanterie= und 8 Kavalleriedivisionen gegen 39 Infanterie- 
und 4 Kavalleriedivisionen der Westmächte. 
Die deutsche Heeresleitung hatte — bewußt oder un- 
bewußt — darauf verzichtet, einzelne feindliche Armeen 
durch Einkreisen vernichtend zu treffen. 
Meiner Uberzeugung nach war ein „Cannae“ gegen 
die französische fünfte Armee und die Engländer im Raume 
zwischen Sambre und Maas möglich, wie ich in dem 
Abschnitt „Die Kämpfe bei Dinant“ begründet habe. 
Ahnlich bot das Standhalten der französischen vierten 
Armee an der Maas beiderseits von Sedan Gelegenheit 
zu deren Abdrängen nach Südosten. 
Nur von der deutschen ersten und zweiten Armee wurde 
im Raume von Guise und St. Quentin der Versuch ge- 
macht, den linken englisch-französischen Heeresflügel ein- 
zukreisen, scheiterte jedoch an der Ungunst der Verhält- 
nisse, insbesondere am Mangel einer siraffen Gesamtleitung. 
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Im allgemeinen beschränkten sich die Einzelarmeen des 
deutschen Stoßflügels während der ganzen Offensive von 
der unteren Maas bis über die Marne auf das mit un— 
sagbarer Willenskraft durchgeführte Trachten, die Auf- 
lösung des Feindes vor der eigenen Front durch rücksichts- 
loses Draufgehen herbeizuführen. 
Das gelang nicht vollständig angesichts des geschickten 
Verhaltens des Gegners, insbesondere seiner weitwirkenden, 
beweglichen Artillerie der Nachhuten. 
Die deutsche Heeresleitung sah sich im Heeresbefehl vom 
5. September zu dem Eingeständnio gezwungen: „Ein Ab- 
drängen des gesamten französischen Heeres gegen die 
Schweizer Grenze ist nicht mehr möglich.“ 
Trotzdem hielt sie aber noch an ihrem Entschluß, den 
Feind durch rücksichtslose Fortsetzung der Offensive tot- 
zumarschieren, fest. Der deutsche rechte Heereoflügel (die 
erste und zweite Armee) sollte der feindlichen Westgruppe 
in Richtung auf Paris offensiv entgegentreten. Die vierte 
und fünfte Armee sollten im Verein mit der sechsten und 
siebenten Armee die französische Ostgruppe nach Süd- 
osten drängen, wobei der Gedanke des Abdrängens von 
Teilen des Gegners gegen das Schweizer Gebiet, wenn 
auch abgeschwächt, „ist noch nicht zu übersehen", — 
ausdrücklich noch als Ziel genannt wird. Das muß sich 
der Leser bei Würdigung der großen Schlachtentscheidung, 
in die wir nun eintreten, gegenwärtig halten. 
Die Schlacht südlich der Marne 
Die Lage beim Feind 
Die Beurteilung der Kriegslage durch die Oberste Heeres- 
leitung, welche sie am s. September den Armeen bekannt- 
gab, stellte sich als verhängnisvolle Unterschätzung des 
Feindes heraus, welche den deutschen Armeen Kampf- 
aufgaben in dem Völkerringen südlich der Marne zuwies, die 
über Menschenkraft gingen. Daß sie von den Truppen 
dennoch gelöst wurden, bleibt deren Ruhmesdenkmal für 
Lalle Zeit. 
Nach der französischen Darstellung der Marneschlacht, 
welche zur Jahresfeier des „Marnewunders“ auf Grund 
amtlichen Materials veröffentlicht wurde, war die Gruppie- 
rung beim Gegner die folgende (s. auch Seite 70): 
Die dritte Armee, General Sarrail (IV., vV., 
VI. Armeekorpo# ohne 42. Infanteriedivision, eine Brigade 
der s4. Infanteriedivision, ös., 67. und 75. Reserve- 
division, 2. und 7. Kavalleriedivision), sollte sich von 
Verdun bis Revigny am Ornain bereitstellen, Front gegen 
die cheutsche fünfte Armee. 
Die vierte Armee, General Langle de Cary (XVII., 
XlI., Kolonial-, II. Armeekorps), anschließend bis Sompuic 
stoich des Ornain, Front gegen die deutsche vierte Armee. 
Die neunte Armee, General Foch (am 29. August 
neu formiert: IX. und XI. Armeekorps, 42. Infanterie- 
division, Marokkodivision, 52. und 60. Reservedivision, 
0.Kavalleriedivision), auf Front Lager von Mailly— 
Sézanne. Sie sollte mit dem XlI. Armeekorps und der 
9. Kavalleriedivision der deutschen dritten Armee, mit dem 
IX. Armeekorps, der 42. Infanteriedivision und Marokko- 
division dem linken Flügel der deutschen zweiten Armee 
gegenübertreten. Der Rest der Armee (zwei Reservedivi- 
sionen) sollte zunächst in Reserve nördlich der Aube bleiben. 
Die fünfte Armee, General Franchet d'Esperey 
(XVIII., III., I. und X. Armeekorps, Gruppe der s1., "3. 
und 69. Reservedivision, Kavalleriekorps 2 mit 4., 8. und 
10. Kavalleriedivision und einer Brigade der 2. Kavallerie= 
division) sollte anschließend bis auf die Hochfläche nördlich 
Provins gegen die deutsche zweite Armee und gegen den 
Sachsen in großer Zelt. Band II 
linken Flügel der deutschen ersten Armee als Hauptstoß- 
gruppe Aufstellung nehmen. 
Dann sollte die stark mitgenommene englische Armec 
(I., II., III. Armeekorps) südwestlich Coulommiers an- 
schließen, gegenüber der Mitte der deutschen ersten Armee. 
Endlich wurde die sechste Armee, General Maunoury 
(VII. Armeekorps, 45. Infanteriedivision, ss. und 56. Re- 
servedivision, Kavalleriekorpo 1), durch Unterstellung unter 
den Gouverneur von Paris um dessen ganze Streit- 
macht als Rückhalt verstärkt, auf der Nordostfront von 
Paris zum Flankenstoß gegen die deutsche erste Armee 
bereitgestellt. Tatsächlich wurde diese Armee am 7. Sep- 
tember durch die ganze 61. Reservedivision und allnächtlich 
durch Auffüllen der Frontbestände mittels aller Kraft- 
wagen des Bereichs von Paris, am 8. September endlich 
durch das ganze IV. Armeekorps (der dritten Armee) 
sowie die 62. Reservedivision der Garnison von Paris 
verstärkt. 
General Joffres Hauptquartier befand sich in Bar an 
der Aube. Nach seinem Plan sollten die deutschen Armeen 
in den Riesensack östlich von Paris hineinrennen, den dann 
die französischen Stoßflügel schließen sollten. Die deutsche 
erste Armee, die östlich an Paris mit der Marschrichtung 
nach Südosten vorbeimarschierte, erkannte aber rechtzeitig 
den feindlichen Plan. Sie wehrte den Vorstoß der fran- 
zösischen sechsten Armee, welche aus der Gegend nordwestlich 
von Meaux gegen den Ourcq vorbrach, siegreich am s. und 
6. September ab. Beide Parteien verstärkten ihre Nord- 
flügel nach und nach mit allen verfügbaren Kräften. 
Den Fortgang der Schlachtentwicklung gebe ich im fol- 
genden tageweise, ausführlich bei der dritten Armee, kurz-- 
gefaßt auf Grund der Tagesmeldungen der einzelnen deut- 
schen Armeen für die übrige 300 Kilometer breite Schlachtfront. 
Vor der Front der deutschen dritten Armee befand sich 
bei Schlachtbeginn tatsächlich der rechte Flügel der franzö- 
sischen neunten Armee unter General Foch und — durch 
eine Lücke von etwa 20 Kilometer von ihr getrennt — das 
französische XVII. Armeekorps der vierten Armee. 
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