Selbst Menschen, die an streng rechtliches Denken gewöhnt
waren, sahen sich zu Akten der Selbsthilfe nach dem Grund-
satz „Not kennt kein Gebot“ gezwungen! So unsagbar
traurig es war: die geistige Bewegung von 1914, die mit
einer sittlichen Läuterung des ganzen Volkes begonnen hatte,
kehrte sich in ihr Gegenteil. Nicht allein die physischen
Kräfte fingen an zu versagen; auch die seelische Gesundheit
des Volkes litt. Mochten einzelne — und es mögen nicht
wenige gewesen sein — auf der geistigen Höbe sich halten
oder mit Anstrengung aller Kraft wieder emporklimmen,
im Seelenleben der breiten Masse der Bevölkerung mehrten
sich die Sturmzeichen der Zerrüttung.
Aber nicht dies allein: ein ganz neuer Geist trat in die Er-
scheinung, der anderen Idealen als denen von 1914 hul-
digte. Begeisterung für den Krieg an sich war auch im
Anfang des Kampfes nicht aufgeglüht, nur Begeisterung für
die Nettung des Vaterlandes aus gemeinsamer Not. Nun
wurde, während im Innern der Burgfrieden zerbrach, nach
außen die Friedenssehnsucht übermächtig: Vom glorreichen
Frieden, vom deutschen Frieden kam man zum ehrenvollen
Frieden, zum Verständigungsfrieden, zum Rechtsfrieden,
schließlich zum Frieden um jeden Preis. Aber nicht nur der
Wunsch nach Wiederkehr friedlichen Glücks, das heiße Be-
gehren nach Rettung aus der Kriegsnot trieben in die neue
Richtung des Denkens; auch ein dem Kriege grundsätzlich
abgewandtes, ja gegen ihn mit Abscheu erfülltes Mensch-
beitsideal stieg mächtig empor: schimmernd und lockend
standen die Gedanken an Völkerversöhnung, Völkerbund
und ein beglücktes Dasein in sozialer Gerechtigkeit vor hof-
fenden Seelen, bei einzelnen Führern wie auch weit ver-
breitet beim einfachen Mann. So brach das Verlangen nach
Frieden, der Wille unnützem Blutvergießen ein Ende zu
machen, in der Stille schon längst wirksam, überraschend
plötzlich wie mit elementarer Gewalt durch. Noch einmal
hatten sich nach dem Abschluß des Friedens mit der Ubraine
und Nußland, nach den ersten glänzenden Erfolgen der deut-
schen Frühjahrsoffensive 1918 die Hoffnungen auf einen
glücklichen Ausgang des ungeheueren Ringens der Deutschen
wider fast die ganze Welt mächtig erhoben. Da setzte um
die Mitte Juli der Gegenangriff der Feinde mit unüberbiet-
barer Wucht ein; die deutsche Front wich nach schwersten
Verlusten langsam, doch in sich fest, zurück. Das Signal
zum Ende aber erscholl, wie einst zum Anfang des Kriegs,
vom Südosten: die Nachricht vom Zusammenbruch Bul-
gariens (am 25. September). Nun überstürzten sich wieder
die Ereignisse. Das deutsche Waffenstillstandsangebot (vom
4./S. Oktober 1918) und, trotz eines Versuches der Umbildung
der Verfassung in demokratischem Sinn, die Revolution
am 4.—10. November brachten die Entscheidung; der Krieg
war verloren. »
Wie Sachsen bei Kriegsbeginn nur dem Rufe von außen
gefolgt war, so spielte es auch bei solcher Friedensbewe-
gung keine führende Rolle. Aber es nahm, am frühesten
und stärksten in den städtischen Zentren, daran in seiner
Weise teil. Schon deutlich war spürbar geworden, daß
sich ein Umschwung des geistigen Lebens der Kriegszeit vor-
bereitete. Die sächsische Presse hallte wider von den Frie-
denserörterungen; in kräftigsten Tönen ungescheut, bisweilen
mit ungemeiner Schärfe der Anklage gegen das herrschende
System, wurden von den „Unabhängigen“ die soziallstischen
Forderungen erhoben. Im Buchwesen behauptete die Kriegs-
literatur nur noch einen bescheidenen Platz; überhaupt war
die Produktion auf das Allernotwendigste eingeschränkt.
Die Kriegsgraphik hatte ihren Reiz verloren; selbst das
Plakat (zur neunten Kriegsanleihe) wirkte nur noch matt.
Auch im öffentlichen Vortrags= und Konzertwesen war eine
gewisse Müdigkeit eingezogen. Auf den Bühnen gab man
zugkräftige Stücke für die zerstreuungsbedürftige Masse
oder wandte sich wieder den auf verfeinerte Genußfähig-
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keit abgestimmten, schwere und ungewöhnliche Seelenpro-
bleme behandelnden literarischen Leistungen zu. In der
bildenden Kunst und in der Dichtung feierten in Dresden
die Vorkämpfer der allerjüngsten Zeitrichtung ihre Triumphe,
in rauschenden oder sensitivsten Offenbarungen eines neuen
Innenlebens mystischer Art; als ein Zeichen der Zeit er-
schien im Oktober 19#18 „Der Komet“, die Zeitschrift „Die
Menschen“ wurde von Vertretern des „Aktivigmus“ heraus-
gegeben. Es war wie ein Aufschrei der Seele, die nach Ent-
fesselung begehrte und sich auszutoben begann; ein völliger
Umsturz aller geistigen Werte, eine Auflösung aller ge-
bundenen Form in Sprache, Bild und Tongefüge schien sich
anbahnen zu wollen. Die buntesten Sinnegeindrücke bei Tag
und Nacht wurden in wirrem Durcheinander auf die Lein-
wand geworfen, ohne Einordmung in Naum und geit. Alles
war in dieser Kunst dem gewohnten natürlichen Denken und
Schauen zuwider; regten sich Wahnideen oder waren dies
wirblich Zeichen einer hereinbrechenden Zeit völlig anderer
geistiger Orientierung?
Innerlich gefestigter blieb die Kirche; doch auch hier
wurden ungewohnte Klänge laut. Ließ sich noch leugnen,
daß die Heimsuchung des Krieges eine sittlich-religiöse
Hebung des Volkbes nicht erwirkte? Es war doch ein den
Christen bis ins innerste Mark treffendes Erlebniö, wenn
beim Eintritt in das neue Kriegsjahr der Prediger das
Gleichnis vom Weingärtner auszulegen hatte, der den Wein-
bergöbesitzer, welcher drei Jahre lang vergeblich Frucht am
Feigenbaum gesucht hat, nun in tiefster Sorge inständig an-
fleht: „Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe
und bedünge ihn, ob er wollte Frucht bringen; wo nicht,
so haue ihn darnach ab“ (Ev. Luc. 13). Schon mehrten
sich die Stimmen, welche eine stärbere Verkündigung des
Friedensgedankens von der Kirche forderten. Auf dem
Evangelisch-sozialen Kongreß, der im Oktober 1918 in
Leipzig tagte, wurden öffentlich Erörterungen über „die
Bedeutung der evangelischen und sozialen Gedanken für
die künftige Wiederannäherung der christlichen Völker“
und sodann über „die Förderung der Begabten im Lichte
der Volkserziehungswissenschaft“ gepflogen. Bei der Thema-
wahl der Gelehrten herrschten wieder die Probleme rein wissen-
schaftlicher Forschung vor; oder es sprachen und schrieben
Historiker und Staatsrechtslehrer über Formen und Möglich-
keiten eines Friedensschlusses, Philosophen über die Fragen
der Lebensreform. Die Landesuniversität, eben bereit, ein
neues Kriegswintersemester mit sehr eingeschränbtem Lehr-
betrieb zu beginnen, aber gewillt durchzuhalten, bereitete für
ihre feldgrauen Söhne, die noch draußen in härtestem
Kampfe standen, eine Liebesgabe vor: „Leipzig als Stätte
der Bildung“. Aber es kam nicht mehr dazu, das inhalts-
reiche und schönausgestattete Buch in Tausenden von Erem-
plaren ins Feld zu senden: den Heimgekehrten ward es als
Ehrengabe in einer wehmütig stolzen Feier überreicht, in
welcher der großen Schar der für das Vaterland gefallenen
Kommilitonen gedacht und den wieder zu neuer studentischer
Arbeit Versammelten der Willkommengruß entboten ward
(im Neuen Theater, am 1. Juni 1919).
So nimmt nach solchem Ausgang die Weltkriegszelt vom
heißen Sommer 1014 bis zum stürmischen Herbst lols in
der Geschichte des geistigen Lebens in Sachsen eine ganz
eigene Stellung ein: Abschluß der vorangegangenen glän-
zenden Epoche und Schicksalswende zugleich, ist sie nur eine
Ausnahmeerscheinung von völlig einziger Art. Aber als
solche ist sie denkwürdig in höchstem Maß und wird in
der Geschichte ein unvergängliches Leben haben. Unseren
glücklicheren Nachkommen, des sind wir gewiß, wird sie,
von den Schlacken der Gegenwart befreit und in allem,
was an ihr bleibenden Wert hat, erkannt, reiner und größer
erscheinen, als heute uns, denen es beschieden war, sie in
Freude und Weh zu durchleben.