einmal anders werden könnte. Da kam der Krieg. Er
traf uns auf allen Wirtschaftsgebieten, mit Ausnahme der
Finanzwirtschaft, unvorbereitet. Deshalb zeigten sich in der
ersten Kriegszeit ein Schwanken und Tasten und vielfach
Unsicherheit im Erkennen des Notwendigen und Richtigen.
Verhältnismäßig schnell wurde dieser Zustand überwunden.
Das Vertrauen in die gesunde Kraft unseres Wirtschafts-
körpers behrte bald zurück. Neben den schnellen Erfolgen
unserer Waffen trug wesentlich hierzu bei, daß der Krieg
zunächst befruchtend auf viele Gebiete des Erwerbslebens
durch umfangreiche Heeresaufträge wirkte, und daß weit-
blickende, glückliche Maßnahmen die hemmenden Einflüsse
des Krieges milderten. So kam es, daß die Zeit anfäng-
licher Stockungen in der sächsischen Industrie, wie sie durch
das plötzliche Aufhören des Auslandsgeschäftes, durch starke
Einschränkungen des privatwirtschaftlichen Güterverkehrs der
Staatsbahnen und durch die Einberufung Tausender von
Arbeitern zum Heeresdienste bedingt waren, bald durch eine
solche guter Beschäftigungen abgelöst wurde. Insbesondere
waren es die sächsische Tertilindustrie und die Metall-
industrie, die von der Heeresverwaltung in der ersten geit
mit umfangreichen Heeresaufträgen bedacht werden konnten.
Dieser Zustand war jedoch nicht von Dauer. Die im weiteren
Verlauf des Krieges immer fühlbarer werdende Absperrung
der deutschen Volbswirtschaft vom Weltverkehr zwang sehr
bald, mit den vorhandenen Vorräten und Erzeugnissen ganz
besonders haushälterisch und planmäßig umzugehen. Die
unmittelbaren Folgen davon waren nach und nach immer
einschneidendere Maßnahmen für Industrie und Handel.
Von den fühlbarsten Folgen waren die bald notwendig
werdenden Ausfuhrverbote für Sachsen begleitet. Die säch-
sische Tertilindustrie und die sächsische Maschinenindustrie
hatten mit ihren Erzeugnissen festen Fuß in der ganzen Welt
gefaßt. Die dadurch entstandenen umfangreichen Export-
beziehungen gingen durch die Ausfuhrverbote verloren. Hatten
hierfür die Heeresaufträge zunächst auch für viele Betriebe
einen Ersatz geboten, so wurde die Lage der sächsischen
Industrie doch schwierig, als zum Schutze der deutschen
Währung auch Einfuhrverbote nötig wurden, die sich an-
fänglich nur auf Luruswaren und entbehrliche Gegenstände
bezogen, seit Januar 1017 aber dahin führten, daß die ge-
samte Einfuhr unter Reichskontrolle genommen und der in
sehr engen Grenzen arbeitenden Genehmigungspflicht des
Reichskommissars für Einfuhr= und Ausfuhrbewilligung
unterworfen wurde. Die Schwierigkeiten vermehrten sich,
als zu den Einfuhr= und Ausfuhrverboten die Beschlagnahme
aller Rohstoffe trat, wie sie sich im Interesse gesicherter
Kriegswirtschaft auf alle wesentlichen und zum Teil auch
auf unwesentliche Stoffe erstrecken mußte. Besonders emp-
findlich war für die sächsische Tertilindustrie die Beschlag-
nahme von Wolle, Baumwolle, Hanf und Flachs. Wohl
waren vor dem Kriege besonders starke Bestände dieser
Rohstoffe vorhanden, und auch im Kriege kamen noch ziem-
liche Mengen, vor allem von Baumwolle herein. Aber dieses
Bild änderte sich mit dem Eintritt Italiens in den Krieg
im Mai 1915 und der immer rücksichtsloser auch gegen-
über den Neutralen durchgeführten Absperrung. Die Folge
davon waren zahlreiche Verarbeitungsverbote und -beschrän--
bungen für die Textilindustric, die nunmehr zu bedeutenden
Betriebseinschränkungen und damit zur Entlassung zahl-
reicher Arbeitsbräfte führten. Die volkswirtschaftlich nach-
teiligen Folgen dieser Maßnahmen wurden für die arbeitende
Bevölkerung durch eine weit ausgreifende Tertilarbeitslosen=
fürsorge gemildert, welche aus Mitteln des Reiches, des
Staates, der Gemeinden und der Tertilindustriellen durch-
geführt wurde. Für die Textilunternehmungen selbst ergab
sich eine gewisse Milderung des stark verringerten Beschäf-
tigungsgrades dadurch, daß eine nicht unbeträchtliche An-
zahl von Betrieben zur Verarbeitung von Ersatzstoffen über-
Sachsen in großer Zelt. Band lII 6
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gehen konnte, inebesondere von Kunstseide, Seide und
Papierstoffen.
Die weiteste Verwendung unter den Ersatzgeweben nahmen
die Papiergarnspinnerei und -verarbeitung ein. Es
kommen hauptsächlich zwei Verfahren in Anwendung. Ent-
weder man verspinnt die Zellulose unmittelbar oder nach-
dem sie in Papier verwandelt und in dünne Streifen ge-
schnitten ist. Eine Verbesserung der ersten Art stellt das
Zelluloseverfahren dar, bei dem die hindernden Nebenstoffe,
wie Tonerde, Harz, ausgeschieden und die Abfälle verringert
werden. Verschiedene Umstände begünstigten die rasche Ent-
wickelung der Papiergespinnstindustrie. Einmal ist Zellulose
ein Rohstoff, der in genügender Menge auch im Kriege
herbeigeschafft werden konnte, zum anderen lassen sich die
vorhandenen Maschinen beim Übergang zur Papiergarn=
verarbeitung mit geringen Anderungen weiter verwenden.
Die Zahl und Art der aus Papiergewebe hergestellten Artikel
ist außerordentlich mannigfaltig, ihre Eignung beschränkt sich
jedoch vorwiegend auf gröbere Stoffe, wie Säcke, Matten,
Decken. Für den Heeresbedarf hat die Benutzung des Papier-
garnes gute Dienste geleistet, vor allem in der Herstellung
von Säcken, Zelten, Matratzen usw. Wissenschaft und Fach-
leute sind jedoch bei diesen Ergebnissen nicht stehen geblieben.
Forschungsinstitute für Tertilindusirie sind entstanden, die
darauf hinarbeiten, die Fehler der bisherigen Erzeugnisse zu
beseitigen, die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, eine größere
Geschmeidigkeit und Feinheit zu erreichen. Jedenfalls befand
und befindet sich diese Industrie in voller Entwickelung,
und man kann damit rechnen, daß die Verwendung von
Papiergarn für eine Reihe von Jahren und Verwendungs-
zwecke auch späterhin beibehalten wird, besonders, wenn die
Beeise für Zellulose wieder auf eine normale Höhe zurück-
gehen und damit billigere Bedingungen geschaffen werden,
so daß es für andere Artikel zum wenigsten als Streckmittel
gebraucht werden kann. So wird es sicherlich dazu bei-
tragen, unsere Einfuhr an ausländischen Textilstoffen zu
mindern, und für sie vielleicht dauernd einen teilweisen Er-
satz bieten.
Auf der Umschau nach neuem Tertilersatz schenkte man
neben der Brennessel auch der Torffaser Beachtung. Man
gebrauchte die Torffaser zum Ersatz von Wolle und verarbei-
tete sie gepreinsam mit Gewebeabfällen. Einen wichtigen Nob-
stoff entnahm man weiter dem Kolbenschilf, Typha genannt.
Das so erlangte Rohmaterial eignete sich zur Herstellung
von gröberen Waren, wie Gurte, Filze, Decken usw. Hand
in Hand mit dieser Erschließung neuer Textilrohstoffe ging
das Bestreben, die Gewinnung der bekannten einheimischen
Rohstoffe zu vermehren. So wurde eine ganz wesentliche
Vermehrung des Flachsanbaues erzielt. Auch zur Hebung
der Wollerzeugung wurden erfolgreiche Schritte getan.
Einen Uberblick über das ausgedehnte Gebiet der ein-
heimischen Faserstoffgewinnung, über die Leistungen der
Papiergarnindustrie, über die Verwertung der Brennessel-,
Torf= und Typha-Faser und die Aussichten für die Zu-
kunft, über die Ausdehnung des Hanf= und Flachsanbaueo
gewährte die deutsche Faserstoffausstellung, die im Früh-=
jahr 1018 in Berlin eröffnet wurde.
Die vielseitigen Bestrebungen und Fortschritte auf dem
Gebiete der Versorgung mit Tertilrohstoffen haben auch in
Sachsen die Bewirtschaftung während der Kriegsjahre auch
ohne ausländische Zufuhr aufrechterhalten helfen und viel-
fach selbst eine Neubelebung der Beschäftigung in der
Industrie veranlaßt.
So erfreulich diese Tatsachen auch waren, so waren diesem
Umwandlungsprozeß doch unüberschreitbare Grenzen in dem
nicht unbeschränkten Vorhandensein der betreffenden Ersatz-
stoffe und der gegebenen Ausdehnungsmöglichkeiten gezogen.
Da andererseits der Heeresbedarf immer dringender wurde,
führte die Entwickelung schließlich auch in der Textilindustrie
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