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7. Abschnitt.
$ 30. Gesetzgebung, Verordnungen und
Verträge.
I. Der Begriff des Gesetzes. Das Wort Gesetz
hat eine doppelte Bedeutung; man spricht von
Gesetzen im materiellen und von solchen im
formellen Sinn und will damit sagen, daß der
Begriff des Gesetzes im ersteren Sinn durch seinen
Inhalt, im letzteren durch seine Form bestimmt
wird. Gesetz im formellen Sinn ist jede
von den gesetzgebenden Organen aus-
gehende, also von der Regierung mit Zustim-
mung der Stände erlassene Anordnung. Gesetz im
materiellen Sinn dagegen ist jeder Befehl der
Staatsgewalt, welcher einen Rechtssatz Aufstellt
und damit die Handlungsfreiheit beschränkt, d.h.
eine erzwingbare Verpflichtung zu einem be-
stimmten Handeln oder Unterlassen auferlegt.
Zur Erlassung, Aufhebung, Abänderung und
authentischen Erläuterung (d. h. Auslegung durch
den Gesetzgeber) eines Gesetzes im materiellen
Sinn ist nach $ 88 der V.U. die Zustimmung des
Landtags erforderlich. Dasselbe gilt von den-
jenigen Gesetzen im formellen Sinn, für welche
durch die Verfassung oder durch Gesetz Gesetzes-
form vorgeschrieben ist. Es ist aber auch möglich,
daß ein Befehl der Staatsgewalt durch Über-
einkunft von Regierung und Ständen in die Form
eines Gesetzes gekleidet wird, obwohl die Re-
gierung auch ohne ständische Zustimmung zum
Erlaß der Anordnung berechtigt gewesen wäre;
auch in diesem Fall liegt dann ein Gesetz im
formellen Sinn vor, das ohne Zustimmung der
Stände nicht abgeändert oder aufgehoben werden