Full text: Staatsbürgerliche Belehrungen in der Kriegszeit. Band 2. (2)

70. Dr. Daul Rohrbach 
fremdung des Russentums gegenüber Deutschland. Mit Not und Mühe 
und schließlich nur durch die Unterstützung Rumäniens gelang es der russischen 
Armee, die Türken zu besiegen. Die Früchte des Sieges aber konnte Ruß- 
land nicht voll behaupten. Die Absicht war, einen russischen Vasallenstaat 
Großbulgarien zu schaffen, der von der Donau bis ans Ageische Meer reichte, 
ganz Mazedonien umfaßte und von der Türkei in Europa nur ein kleines 
Stück am Marmarameer und getrennt davon ein zweites in Albanien übrig- 
ließ. Dem trat England kräftig entgegen, unterstützt von Gsterreich, das 
sich durch einen so gewaltigen russischen Machtzuwachs bedroht fühlte. Rußland 
besaß weder militärisch noch finanziell die Kraft, um nach dem schlecht ge- 
führten und erschöpfenden Türkenkriege noch den Kampf mit England und 
Osterreich-Ungarn aufzunehmen. Die öffentliche Meinung aber, die die 
Regierung in den Krieg von 1877 gedrängt hatte, suchte trotzdem alle 
Schuld für den mangelbaften Ausgang auf dieselbe Regierung zu laden. 
Aus dieser Derlegenbeit rettete sich der russische Staatskanzler, Fürst 
Gortschakow, indem er Bismarck bat, eine europäische Konferenz zur Schlich- 
tung der Friedensfrage zu berufen. Deutschland verstand seinerseits seine 
Rolle auf dieser Konferenz, eben dem Berliner Kongreß von 1878, als „ehr- 
licher Makler“ und als Freund Rußlands, das 1870/21 durch seine wohlwollende 
Aeutralität unsern Sieg über Frankreich gefördert hatte. Hierfür war die 
Rechnung allerdings schon dadurch beglichen, daß wir nach dem siebziger 
Uriege Rußland zur Zefreiung von den demütigenden Hindernissen ver- 
halfen, die ihm nach dem Krimkrieg auf dem Schwarzen Meere auferlegt 
worden waren. Ausgeschlossen war es für uns nur, um Rußlands willen 
einen Krieg mit England zu führen; wie hätten wir das auch 1878 anfangen 
sollend Die russische Dolitik sah wohl voraus, daß Deutschland auf dem 
Kongresse nicht in der Lage sein würde, das Kongreßprotokoll ebenso zu 
gestalten, wie den Dorfrieden von San Stefano, in dem sich die Türken 
mit dem russischen Großbulgarien wohl oder übel einverstanden erklärt hatten. 
Dann aber, wenn Deutschland „versagte“", so war nichts einfacher, als die 
ganze Schuld an dem mangelhaften Ausgange des Crientkrieges von der 
Regierung abzuwälzen und Deutschland aufzulegen. „Alles wäre gut ge- 
gangen, wenn nicht Deutschland undankbarerweise das vertrauende Rußland 
in Berlin verraten hätte!“ Diese Formel wurde sofort nach dem Kongreß 
im russischen Dolke ausgegeben. 
c) Dor die Wahl zwischen Rußland und GEsterreich-Ungarn gestellt, mußte 
Bismarck, wie er schrieb, „für Osterreich optieren“ und das deutsch-öster- 
reichische Zündnis durch die Hinzunahme Italiens zum Dreibund erweitern. 
Er versuchte außerdem noch, eine besondere Beziehung zwischen Deutschland 
und Rußland festzuhalten, doch war dieses verwickelte Derhältnis nach 
seinem Abgange nicht länger möglich. Dem Dreibunde gegenüber entstand 
der Fweibund zwischen Frankreich und Rußland. Die französische Holitik 
ging dieses Derhältnis zu Rußland ein, um endlich ein Unterpfand für die 
Revanchebhoffnungen der WMation zu bekommen; in Rußland gab es für das 
Bündnis mit Frankreich zwei ganz verschiedene Beweggründe. Die deutsch- 
feindliche Kriegspartei hoffte mit Frankreich zusammen dahin zu gelangen,
	        
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