Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

  
186 Achtes Kapitel: Besuch in Paris. 
unser brüderliches Herz auszuschütten. Ich erlebte in Paris, 
daß ein Graf So und So gegen seine Frau auf Scheidung 
klagte, nachdem er sie, eine ehemalige Kunstreiterin, zum 
24. Male im flagranten Ehebruch betroffen hatte; er wurde 
als ein Muster von galantem und nachsichtigem Ehemann von 
seinem Advocaten vor Gericht gerühmt, aber gegen unsern 
Edelmuth mit Oestreich kann er sich doch nicht messen. 
Unsre innern Verhältnisse leiden unter ihren eignen Fehlern 
kaum mehr als unter dem peinlichen und allgemeinen Gefühl 
unfres Verlustes an Ansehn im Auslande und der gänzlich 
passiven Rolle unfrer Politik. Wir sind eine eitle Nation, es 
ist uns schon empfindlich, wenn wir nicht renommiren können, 
und einer Regirung, die uns nach außen hin Bedeutung gibt, 
halten wir vieles zu Gute und lassen uns viel gefallen dafür, 
selbst im Beutel. Aber wenn wir uns für's Innre sagen 
müssen, daß wir mehr durch unfre guten Säfte die Krankheiten 
ausstoßen, welche unfre ministeriellen Aerzte uns einimpfen, 
als daß wir von ihnen geheilt und zu gesunder Diät angeleitet 
würden, so sucht man im Auswärtigen vergebens nach einem 
Trost dafür. Sie sind doch, verehrtester Freund, au fait von 
unfrer Politik; können Sie mir nun ein Ziel nennen, welches 
dieselbe sich etwa vorgesteckt hat, auch nur einen Plan auf 
einige Monate hinaus; grade rebus sic stantibus 1) weiß man 
da, was man eigentlich will? weiß das irgend Jemand in 
Berlin und glauben Sie, daß bei den Leitern eines andern 
Staates dieselbe Leere an positiven Zwecken und Ideen vor- 
handen ist? Können Sie mir ferner einen Verbündeten nennen, 
auf welchen Preußen zählen könnte, wenn es heut grade zum 
Kriege käme, oder der für uns spräche bei einem Anliegen, 
wie etwa das Neuenburger, oder der für uns irgend etwas 
thäte, weil er auf unsern Beistand rechnet oder unfre Feind- 
1) Unter den gegenwärtigen Verhältnissen.
	        
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