Briefwechsel mit Gerlach über Legitimität und Bonapartismus. 209
unserm Schaden erlebt. Oestreich kann uns keine Bedeutung
in Deutschland gönnen, England keine Chancen maritimer Ent-
wicklung in Handel oder Flotte und ist neidisch auf unfre In-
dustrie.
Sie parallelisiren mich mit Haugwitz und der damaligen
„Defensiv-Politik. Die Verhältnisse damals waren aber andre.
Frankreich war schon im Besitz der drohendsten Uebermacht,
an seiner Spitze ein notorisch gefährlicher Eroberer, und auf
England war dagegen sicher zu rechnen. Ich habe den Muth,
den Baseler Frieden nicht zu tadeln; mit dem damaligen
Oestreich und seinen Thugut, Lehrbach und Cobenzl war eben-
sowenig ein Bündniß auszuhalten wie mit dem heutigen, und
daß wir 1815 nur schlecht fortkamen, kann ich nicht auf den
Baseler Frieden schieben, sondern wir konnten gegen die uns
entgegenstehenden Interessen von England und Oestreich nicht
aufkommen, weil unfre physische Schwäche im Vergleich mit
den andern Großmächten nicht gefürchtet wurde. Die Rhein-
bundstaaten hatten noch ganz anders „gebaselt" wie wir und
kamen doch in Wien vorzüglich gut fort. Daß wir aber 1805
nicht die Gelegenheit ergriffen, um Frankreichs Uebermacht
brechen zu helfen, war eine ausgezeichnete Dummheit; schnell,
nachdrücklich und bis zum letzten Hauch hätten wir gegen Na-
poleon eingreifen sollen. Stillzusitzen war noch unverständiger,
als für Frankreich Partei zu nehmen; nachdem wir aber diese
Gelegenheit hatten vorbeigehn lassen, so mußten wir auch 1806
à tout prix Friede halten und eine bessere abwarten ½.
Ich bin garnicht für „Defensiv-Politik, ich sage nur, daß
wir ohne aggressive Absichten und Verpflichtungen uns auf die
Annäherungsversuche Frankreichs einlassen können, daß dieses
Verhalten grade den Vortheil bietet, uns jede Thür offen, jede
Wendung frei zu erhalten, bis die Lage der Dinge fester und
1) Man pgl. u. S. 221.
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 11