254 Zehntes Kapitel: Petersburg.
socialen Reaction der jüngern Gesellschaftsschicht gegen die
früher wirksam gewesenen deutschen Einflüsse oder aus einem
Sinken der Erziehung in der jüngern russischen Gesellschaft
seit der Epoche des Kaisers Alexander I. zu erklären ist, viel-
leicht auch aus der Contagion, welche die sociale Entwicklung
der Pariser Kreise auf die der höhern russischen Gesellschaft
auszuüben pflegt. Gute Manieren und vollkommne Höflichkeit
sind in den herrschenden Kreisen von Frankreich außerhalb des
Faubourg St. Germain heut nicht mehr so verbreitet, wie es
früher der Fall war und wie ich sie in Berührung mit ältern
Franzosen und mit französischen und noch gewinnender bei
russischen Damen jeden Alters kennen gelernt habe. Da
übrigens meine Stellung in Petersburg mich nicht zu einem
intimen Verkehr mit der jüngsten erwachsenen Generation
nöthigte, so habe ich von meinem dortigen Aufenthalt nur die
angenehme Erinnrung behalten, welche ich der Liebenswürdig-
keit des Hofes, der ältern Herrn und der Damen der Gesell-
schaft verdanke.
Die antideutsche Stimmung der jüngern Generation hat
sich demnächst mir und Andern auch auf dem Gebiete der poli-
tischen Beziehungen zu uns fühlbar gemacht, in verstärktem
Maße, seit mein russischer College, Fürst Gortschakow, seine
ihn beherrschende Eitelkeit auch mir gegenüber herauskehrte.
So lange er das Gefühl hatte, in mir einen jüngern Freund
zu sehn, an dessen politischer Erziehung er einen Antheil be-
anspruchte, war sein Wohlwollen für mich unbegrenzt, und die
Formen, in denen er mir Vertraun zeigte, überschritten die
unter Diplomaten zulässige Grenze, vielleicht aus Berechnung,
vielleicht aus Ostentation einem Collegen gegenüber, an dessen
bewunderndes Verständniß mir gelungen war ihn glauben zu
machen. Diese Beziehungen wurden unhaltbar, sobald ich als
preußischer Minister ihm die Illusion seiner persönlichen und
staatlichen Ueberlegenheit nicht mehr lassen konnte. Hinc