Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

Welfentreue. Inwieweit sind dynastische Interessen berechtigt? 337 
  
interesse anpassen; sie können mit diesem sehr wohl Hand in 
Hand gehn, und ein reichstreuer Herzog im alten Sinne ist 
dem Ganzen unter Umständen nützlicher als direkte Beziehungen 
des Kaisers zu den herzoglichen Hintersassen. So weit aber 
die dynastischen Interessen uns mit neuer Zersplitterung und 
Ohnmacht der Nation bedrohn sollten, müßten sie auf ihr rich- 
tiges Maß zurückgeführt werden. Das deutsche Volk und sein 
nationales Leben können nicht unter fürstlichen Privatbesitz ver- 
theilt werden. Ich bin mir jeder Zeit klar darüber gewesen, 
daß diese Erwägung auf die kurbrandenburgische Dynastie die- 
selbe Anwendung findet wie auf die bairische, die welfische und 
andre; ich würde gegen das brandenburgische Fürstenhaus keine 
Waffen gehabt haben, wenn ich ihm gegenüber mein deutsches 
Nationalgefühl durch Bruch und Auflehnung hätte bethätigen 
müssen; die geschichtliche Prädestination lag aber so, daß meine 
höfischen Talente hinreichten, um den König und damit schließ- 
lich sein Heer der deutschen Sache zu gewinnen. Ich habe gegen 
den preußischen Particularismus vielleicht noch schwierigere 
Kämpfe durchzuführen gehabt als gegen den der übrigen deut- 
schen Staaten und Dynastien, und mein angebornes Verhältniß 
zu dem Kaiser Wilhelm I. hat mir diese Kämpfe erschwert. 
Doch ist es mir schließlich stets gelungen, trotz der starken dyna- 
stischen, aber Dank der dynastisch berechtigten und in entschei- 
denden Momenten immer stärker werdenden nationalen Stre- 
bungen des Kaisers seine Zustimmung für die deutsche Seite 
unsrer Entwicklung zu gewinnen, auch wenn eine mehr dynastische 
und particularistische von allen andern Seiten geltend gemacht 
wurde. In der Nikolsburger Situation wurde mir dies nur 
mit dem Beistande des damaligen Kronprinzen möglich 1. Die 
territoriale Souveränetät der einzelnen Fürsten hatte sich im 
Laufe der deutschen Geschichte zu einer unnatürlichen Höhe ent- 
1) S. Bd. II S. 54 f. 
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 22
	        
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