390 Das Verfassungsrecht. § 50
In welcher Weise die Volksvertretung zu bilden ist, ist eine Frage
der politischen Erwägung. Dies gilt zunächst von dem Zweikammer-
systeme. Aus dem oben entwickelten rechtlichen Charakter der Volks-
vertretung läßt sich weder die Notwendigkeit zweier noch die einer
Kammer begründen. Wenn in den meisten Staaten, insbesondere
auch in Preußen, die Volksvertretung aus zwei Kammern bestleht, so
ist dies nicht aus staatsrechtlichen, sondern aus politischen Gründen
der reinen Zweckmäßigkeit geschehen:). Weiterhin folgt aus dem
juristischen Charakter der Volksvertretung nichts für die Art und Weise
der Bestellung der einzelnen Volksvertreter. Daß sie oder wenigstens
ein Teil von ihnen, nämlich die Mitglieder der zweiten Kammer,
gewählt werden müßten, kann man nicht behaupten. Wenn man
aus dem Wesen der Volksvertretung die Notwendigleit der Wahl
herleiten will, so schiebt man dem Begriffe der Vertretung den falschen
privatrechtlichen Begrisf des Auftrages oder der Vollmacht unter, der
allerdings eine Bestellung seitens des Auftrag= oder Vollmachtgebers
erfordert. Der einzelne Volksvertreter vertritt aber nach gesetzlicher
Beslimmung gar nicht seine Wähler, sondern das ganze Volk, er ist
nicht kraft Auftrages, sondern kraft Gesetzes dessen Vertreter. Aus
dem Begriffe der Volksvertretung läßt sich daher nichts über die Art
der Bestellung der einzelnen Mitglieder folgern, weder die Not-
wendigkeit der Wahl noch die der königlichen Ernennung. Das Staats-
recht kann sich demnach nicht damit beschäftigen, wie die Volksvertre-
tung ihrem Begriffe nach zusammengesetzt werden sollte, sondern nur,
wie sie tatsächlich zusammengesetzt ist.
Nach der preußischen Verfassungsurkunde besteht nun die Volks-
vertretung aus zwei verschiedenen Körperschaften, die anfangs als
erste und zweite Kammer, seit dem Gesetze vom 30. Mai 1850,
betreffend die Abänderung der Verfassungsurkunde in Ansehung der
Benennung der Kammerns) zur Vermeidung der besonderen Neben-
bedeutung des französischen Wortes „Kammern“, als „Herrenhaus“
und „Haus der Abgeordneten“ bezeichnet werden. Als gemeinschasft-
liche Bezeichnung für beide Kammern hatte die Negierung die eines
„Vereinigten Landtages“ vorgeschlagen. Diese wurde jedoch als an
7) Ich verweise in dieser Beziehung jetzt auf meine Allgemeine
Staatslehre, 2. Aufl., Berlin 1909, S. 115, 129.
8) G.--S. 1855, S. 316.