RUSSISCH-JAPANISCHER KRIEG IN SICHT 629
auf das neue republikanische Regime. Auch mußte er sich naturgemäß auf
die durch die französischen Niederlagen modifizierte internationale Politik
seines Landes einstellen. Er zog sich auch aus dieser Schwierigkeit mit Geist
und Takt. Als er in jener Zeit einmal nach einer langen Unterredung von
dem damaligen Präsidenten der Französischen Republik, Thiers, der Nigra
und Italien nicht mochte, Abschied nahm, blieb er mit den Schößen seines
Gehrocks an der Tür hängen. Lächelnd bemerkte Thiers, indem er sich be-
mühte, ihm zu helfen: „Voyez, comme vous ötes attach€ ä la France.“
Schlagfertig erwiderte ihm Nigra: „Il vous fallait pour me detacher.“
In Petersburg wie später in London und endlich in Wien verstand es Nigra
überall, unter den verschiedensten Verhältnissen, sich eine große Stellung
zu machen. Am meisten vielleicht in der Hauptstadt Österreichs, das
er mit den Waffen und mit dem Verstand während vieler Jahre be-
kämpft hatte. Nigra trat mit 77 Jahren in den Ruhestand und starb
achtzigjährig in Rapallo, angesichts des Meers, das Odysseus und Aeneas
befuhren, das Homer und Virgil besangen, des blauen Mittelmeers, das er
50 sehr liebte.
Ich habe schon gelegentlich der Anhänglichkeit gedacht, welche die
Kaiserin Alexandra Feodorowna von Rußland für Darmstadt und Hessen
empfand. Unter ihrem Einfluß suchte Kaiser Nikolaus im Oktober 1903
Hessen auf. Die russischen Majestäten etablierten sich in dem Schlößchen
Wolfsgarten bei Darmstadt, wo der über so viele Millionen (anscheinend)
treuer Untertanen damals noch selbstherrschende Zar ein idyllisches Dasein
führte: vormittags ein kleiner Ausflug nach Frankfurt a. M. oder Mainz,
abends Besuch des Darmstädter Hoftheaters, dazwischen Bummeln im
Park, allenfalls eine Partie Lawn-Tennis.
Bevor ich mich mit dem Kaiser zur Begrüßung der russischen Majestäten
nach Wiesbaden und Darmstadt begab, suchte der japanische Gesandte
eine Unterredung mit mir nach, in deren Verlauf er mir keinen Zweifel
darüber ließ, daß ein Krieg zwischen Japan und Rußland im Bereich der
Möglichkeiten läge. Aus seinen Äußerungen ging die Besorgnis hervor, daß
wir durch sekrete Abmachungen verpflichtet wären, Rußland im Falle
eines Krieges mit Japan zu Hilfe zu kommen. Ich nahm keinen Anstand,
dem Vertreter des Landes der aufgehenden Sonne zu erklären, daß zwi-
schen uns und Rußland weder eine allgemeine noch eine partielle Ab-
machung bestünde, insbesondere kein auf Ostasien bezügliches Abkommen.
Solange Rußland der Verbündete Frankreichs sei, würde es uns nicht
unseren Besitzstand garantieren, was der Ausgangspunkt und die unver-
meidliche Vorbedingung eines jeden deutschen Bündnisses sein müßte. Wir
würden deshalb bei einem russisch-japanischen Kriegsduell weder für den
einen noch für den andern Partei nehmen. Hinsichtlich der Behandlung
Nikolaus II.
in
Deutschland