Übersetzung des Briefes auf Seite 270
Zar Nikolaus an Wilhelm II.
Livadia, 2./14. Dezember 1898
Liebster Willy,
Es war schr freundlich von Dir, mir von Deiner Reise zwei lange und inter-
essante Briefe zu schreiben, einen von Konstantinopel und den andern von
Damaskus! Ich danke Dir herzlich dafür. Es interessierte mich ganz besonders,
von Deinen persönlichen Eindrücken zu hören, da ich leider nicht das Glück ge-
habt habe, bei meiner Reise nach Osten Syrien und Palästina zu besuchen. Vor eini-
gen Tagen erhieltich einen Spezialbericht von Graf Osten-Sacken über eine Unter-
haltung, die er mit Dir hatte, als er Dir das Bild von unserer Ankunft in Kronstadt
voriges Jahr überreichte. Deine gewohnte Offenheit gegen ihn hat mich glücklich
gemacht, und ich bitte Dich, verlaß Dich nach wie vor auf ihn genau so, wie Du
mir vertraust! Wann immer Du Aufklärung über eine Frage brauchst oder wenn
ich irgend etwas Neues von Dir erfahren soll, was uns beide angeht, so laß Dir
abgeschen von Briefen an mich (wenn Du Zeit hast) künftig Osten-Sacken
kommen, ich versichere Dich, die Dinge werden auf diesem Wege schnell und
geräuschlos erledigt werden. Hoffentlich dauert Englands anmaßendes Verhalten
nicht mehr allzu lange. Es scheint mit seinen Kriegsvorbereitungen Ernst zu
machen, aber jetzt, wo es sieht, daß die erhoffte Wirkung auf die Mächte nicht so
groß ist, wie es erwartet hatte, wird der Kriegsgeist sich bestimmt bald legen. Ich
glaube, England hat nicht viel Aussicht, mit den Vereinigten Staaten ein allge-
meines Bündnis gegen Europa zu schließen und gegen Rußland im besonderen,
da es zuviel auseinandergehende Interessen gibt. Kanada oder die ernster
werdende Frage des Nikaraguakanals. Natürlich würden sie (ich meine die Eng-
länder) die Amerikaner gern in China gegen uns in Bewegung setzen. Das ängstigt
mich gar nicht. Denn wir haben einen festen Stützpunkt zu Lande in Port Arthur
und — vor allem grenzt Rußland an die Afghanistanische Grenze, und das sollte
England nicht vergessen! Ich bin froh, daß die kretische Sache jetzt endlich zum
Abschluß kommt. Du weißt, warum Rußland bei der Lösung eine so große Rolle
spielte, auf die Gefahr, unsere guten und herzlichen Beziehungen mit der Türkei
zu stören, ich meine die Sorge, daß sich eine andere Macht auf der Insel festsetzte,
und natürlich der Wunsch, dem dauernden Blutvergießen ein Ende zu machen.
Die Frage konnte nicht anders gelöst werden als durch die Entsendung von
Georg als Oberkommissar der vier Mächte. Es war eine radikale Maßregel, aber
gerade darum meines Erachtens die einzig mögliche. Unsere Truppen sollen dort
so lange bleiben, wie England die seinen dort läßt. — Wir beide haben hier eine