DIE WOLFFSCHE DEPESCHE 351
hohen Herren sei jetzt rückhaltlos gut geworden, was nach der Überzeugung
Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm bei dem hohen Alter des Kaisers
Franz Josef eine große Garantie für die Zukunft sei. Zur lebhaftesten
Freude Seiner Majestät habe der Erzherzog den Kaiser zu Hirschjagden
eingeladen. Der Besuch des Kaisers in den österreichischen Jagdgründen
solle mehrere Tage dauern, dann werde Seine Majestät auf wenigstens eine
Woche zu seinem besten Freunde, dem Fürsten Max Egon Fürstenberg,
nach Donaueschingen fahren, worauf er sich fast noch mehr freue als auf
das Zusammensein mit dem österreichischen Thronfolger. Man spreche von
glänzenden Vorbereitungen, die der Schloßherr von Donaueschingen treffe,
um Seine Majestät den Kaiser nicht nur in großartiger Weise zu empfangen,
sondern um ihm auch den Besuch in dem Fürstenbergischen Stammschloß
50 kurzweilig wie möglich zu gestalten. Die Allerhöchste Atmosphäre war
wieder einmal in die Farbe der rosenfingrigen Eos getaucht.
Die ersten Tage nach meiner Rückkehr von Regensburg nach Berlin
verliefen in Rücksprachen wegen der Reichsfinanzreform, in Unterredungen
mit den fremden Botschaftern über die bosnische Krisis und in meist recht
mühsamen Besprechungen mit den Führern der Blockparteien. Mein
Freund Albert Ballin sagte mir einmal, Journalisten von Entgleisungen und
Seitensprüngen ab- und auf einer richtigen Linie zu halten, sei schwieriger,
als einen Schwarm von Flöhen wieder einzufangen nach der Öffnung des
Sacks, in dem sie eingesperrt waren. Die Aufgabe, Liberale und Konserva-
tive zusammenzuhalten, war bei der deutschen Eigenbrötelei und Recht-
haberei nicht minder mühsam. Immer wieder fiel mir das böse Wort von
Goethe über uns Deutsche ein: „Im einzelnen achtungswert, im ganzen
miserabel.“
Am 29. Oktober trat ich wie jeden Morgen an meinen großen Schreib-
tisch, den mir dreißig Jahre früher ein wackerer Tischler im Faubourg
Saint-Antoine, dem alten Sitz Pariser Kunstfertigkeit, mit Pariser Ge-
schmack und Sorgfalt angefertigt hatte und der mich von der Seine an die
Newa, von dort an den Tiber und schließlich zur Spree begleitete. Unter den
zahlreichen Eingängen, die den Schreibtisch bedeckten, an dem ich so viele
Berichte gelesen und viele Briefe und Erlasse geschrieben habe, erblickte
ich eine lange Londoner Depesche des Wolffschen Telegraphenbüros. Mit
gewohnter Ruhe griff ich nach ihr. Aber mein Gleichmut verwandelte sich
in maßloses Erstaunen, als ich las. Die Wolffsche Depesche war das Resumee
eines Artikels des Londoner „Daily Telegraph‘ über eine Unterredung mit
dem Deutschen Kaiser, die kürzlich stattgefunden hätte, eines Berichts, der
nach der Versicherung des englischen Blattes einer unantastbaren Autorität
entstamme. Der Artikel enthielt eine Reihe wenig glücklicher Äußerungen,
z. B. die wehleidige Bemerkung, daß der Kaiser die falsche Auslegung und