418 NICHT AUS DER NOT EINE TUGEND MACHEN
besser in unserem Interesse. Wenn die englische Regierung den ehrlichen
Wunsch bei uns erkennen kann, daß wir Marokko aus unserer Politik in
Zukunft ausscheiden wollen, sobald wir nach Lage der Möglichkeit neue
Bürgschaften für die Wahrung unserer materiellen Interessen von
den Franzosen erlangt haben, so möchte ich annehmen, daß England in
den darüber zu führenden Verhandlungen — auch wenn sie nur zwischen
uns und Frankreich geführt werden, so wird England doch von französischer
Seite unterrichtet bleiben — eine ähnliche Haltung einnehmen wird wie
zwischen Österreich und der Türkei, d. h. die englische Regierung wird
sagen, wir geben zu allem unseren Segen, was Frankreich annehmbar
erscheint. Das Bestehen des deutsch-französischen Gegensatzes wegen
Marokkos ist für England nur so lange günstig, als esin uns einen möglichen
militärischen Gegner erblickt. Sonst nicht. Mit der Flottenverständigung
tritt die militärische Gegnerschaft Deutschlands gegen England weit in den
Hintergrund. Es handelt sich nun ferner um die Frage, wie eine Flotten-
verständigung am geeignetsten herbeigeführt wird. Dazu gehört vor allem
absolute Geheimhaltung der Absicht bis zu dem Moment, wo wir ihre Aus-
führung ernstlich in Angriff nebmen, also keine vorherige Stimmungsmache
in der Presse. Ferner gehört dazu, daß es nicht so aussieht, als ob wir aus
der Notwendigkeit eine Tugend machten, d.h. es muß ein ‚bon mouvement‘
unsererseits sein, geleitet von dem Wunsche, mit England ins reine zu
kommen. Dies wird hier einen großen und starken Eindruck machen. Für
unsere Stellung gegenüber England in der Frage der Verständigung halte
ich es von der größten Wichtigkeit, daß die von Ihnen angestrebte Finanz-
reform die Sanktion des Reichstags erhält, so daß wir aller Welt beweisen,
daß unsere Steuerkräfte nicht erschöpft sind und daß wir nicht unser
finanzielles Dasein durch Pump fristen müssen. Wenn es uns nicht gelingt,
die Reichsfinanzen auf eine gesunde Basis zu stellen, ein Prozeß, der hier
mit sehr großer Aufmerksamkeit verfolgt wird, so wird in England, wenn
wir mit Verhandlungen hervortreten, sofort der Schluß gezogen werden,
daß uns finanziell der Atem ausgegangen ist und daß wir gezwungen sind,
unsere Flotte langsamer zu bauen, ob wir nun mit England verhandeln
oder nicht. Daß dies keine günstige Grundlage für eine Auseinandersetzung
bietet, erfordert wohl kaum eine nähere Erklärung. Das englische Budget
wird, nach allem, was ich darüber höre, lediglich auf eine Belastung der
Reichen hinauslaufen, so daß unter den besitzenden Klassen große Be-
unruhigung wahrzunehmen ist. Einkommen von einer gewissen Höhe
sollen enorm besteuert werden. Die Death Duties haben in diesem Jahr,
irre ich nicht, das ungeheure Erträgnis von zweiundzwanzig Millionen
Sterling erzielt. Alles dies trägt, wie ich höre, dazu bei, das englische Kapital
ins Ausland zu treiben. Die von Ihnen befürwortete Nachlaßsteuer bewegt