Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Zweiter Band. Von der Marokko-Krise bis zum Abschied. (2)

XXX. KAPITEL 
Die Stimmung im Lande » Schmoller und Harnack » Der Stand der Reichsfinanzreform 
Die Konservativen machen Schwierigkeiten - Ihre Führer beim Reichskanzler (29. IV. 
1909) - Herr von Heydebrand mit Bülow unter vier Augen - Die Frage der Übertragung 
des Reichstags-Wahlrechts auf Preußen 
ie steigenden Schwierigkeiten, die ich in dieser Zeit mit den Parteien im 
Hinblick auf die herannahende Entscheidung in der Erbschaftssteuer- 
frage hatte, konnten mich nicht von der Richtlinie abdrängen, die ich mir 
seit Beginn meiner Amtsführung für mein Verhältnis zum Parlament ge- 
zogen hatte und die dahin ging, daß es an dem Reichskanzler wäre, die 
in Deutschland oft allzu selbstsüchtigen, meist sehr kurzsichtigen Parteien 
zu leiten, nicht aber sich von ihnen führen zu lassen. Ich war auch der 
Überzeugung, die der Ausfall der Wahlen von 1907 mir bestätigt hatte: 
daß das Volk verständiger ist als die Fraktionen. „Le pays est sage, les 
partis ne le sont gu£re“‘, sagte Thiers als Präsident der Französischen Re- 
publik 1872 oder 1873 zu dem damaligen deutschen Botschafter in Paris, 
Harry Arnim, und Bismarck lobte dieses kluge Wort. Auch in der letzten 
Zeit meiner Amtstätigkeit war das Land auf meiner Seite. Die Stimmung 
weiter Kreise gab eine genial gezeichnete Karikatur des „Simplicissimus“* 
wieder, die eine behäbige Germania darstellte, die sich ängstlich an den 
Reichskanzler anklammert mit den Worten: „Bernhard, bleibe bei mir! 
Die bösen Männer stehen schon vor der Tür.‘ Durch das Fenster schauen 
zwei Einbrecher in die Stube: ein Sozialdemokrat mit der Ballonmütze 
auf dem Kopf und ein Geistlicher im Pastorenhut. 
Ich konnte die Stimmung des Landes aus zahlreichen Zuschriften ent- 
nehmen, die mir aus allen Teilen des Reichs zugingen. Ich führe von den in 
jener Zeit an mich gelangten Schreiben nur einen Bricf an, den der lang- 
jährige bayrische Minister des Innern Graf Feilitzsch am 31. März 1909 
an mich richtete und in dem es hieß: „Seit dem Deutsch-Französischen 
Kriege, der Deutschlands Einigung und Größe begründet hat, ist wohl 
kein so wichtiges Ereignis in die Erscheinung getreten als die friedliche 
Begleichung der Balkan-Frage. Wir haben dies der zielbewußten, energischen 
Politik Eurer Durchlaucht zu danken. Deutschland war stark genug, um 
29r 
Graf Feilitzsch 
an Bülow
	        
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