Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Erster Jahrgang. 1873. (1)

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4. Heimath-Wesen. 
  
Das Bundesamt für das Heimathwesen hat in Sachen Berlin gegen Charlottenburg am 24. März 1873 ent- 
schieden, daß eine Streitsache, in welcher in Gemäßheit der früheren preußtschen Gesetzgebung ein Regierungs- 
resolut ergangen war, als „anhängig“ im Sinne des §. 65 Ziffer 6 des Neichsgesetzes vom 6. Juni 1870 
anzusehen sei. 
Die Entscheidungsgründe lauten, wie folgt: 
Der Armenverband Berlin, welcher durch Resolut der Königlichen Regierung zu Potsdam vom 
16. Januar 1871 verurtheilt worden ist, die durch Verpflegung des kranken Arbeiters N. N. ent- 
standenen Kosten dem Armenverband Charlottenburg zu erstatten, und dem Resolute entsprochen 
hat, ist im Juli 1871 vor dem Königlichen Kreisgericht zu Charlottenburg mit einer Klage auf- 
getreten, in welcher er von dem Armenverband Charlottenburg Rückzahlung der Kosten verlangte, 
weil er sich mit Unrecht verurtheilt fand. Von dem angerufenen Gerichte und in zweiter Instanz 
von dem Königlichen Kammergericht in Berlin mit seiner Klage zurückgewiesen, weil die Gerichte 
inkompetent seien, hat der Armenverband Berlin nunmehr dieselbe Klage vor der Brandenburgischen 
Deputation für das Heimathwesen erhoben, ist aber auch von dieser Behörde wegen mangelnder 
Kompetenz abgewiesen worden. Das erstinstanzliche Erkenntniß motivirt die Unzuständigkeit der 
Deputation damit, daß der Streit schon vor dem 1. Juli 1871 anhängig geworden sei, und die 
Aufhebung des Regierungsresolutes vom 16. Januar 1871 nur im Rechtswege, nicht im Verwal- 
tungswege, erfolgen könne. 
Mit Unrecht findet sich Kläger durch diese Entscheidung beschwert. 
Nach §. 65 Ziffer 6 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 und §. 73 des preußischen Aus- 
führungsgesetzes vom 8. März 1871 sollen alle Streitsachen, welche vor dem 1. Juli 1871 anhängig 
geworden waren, in dem früheren Verfahren zum Austrage gebracht werden. Die Kompetenz der 
nach §. 38 des Reichsgesetzes zur Entscheidung im Verwaltungswege berufenen Spruchbehörden ist 
hiernach für alle diejenigen Fälle ausgeschlossen, in welchen der Streit unter der Herrschaft des 
alten Verfahrens zur Kognition der damals zuständigen Behörden gebracht war. Zuständig zur 
Entscheidung waren nach §. 34 des preußischen Armenpflege-Gesetzes vom 31. Dezember 1842 in 
erster Linie die Landes Polizeibehörden, welche die Nothwendigkeit der öffentlichen Fürsorge und die 
Höhe der Erstattungsforderung definitio festzustellen, über die Frage, welcher Armenverband für- 
sorgepflichtig sei, aber mit Vorbehalt des Rechtsweges zu entscheiden hatten, in zweiter Linie die 
Gerichte, welchen die endgültige Entscheidung der zuletzt gedachten Frage reservirt war, ohne daß 
jedoch durch Beschreitung des Rechtsweges die einstweilige Vollstreckung der von der Verwaltungs- 
behörde getroffenen Entscheidung aufgehalten wurde. Nach dieser Organisation wurde eine Streit- 
sache zwischen Armenoerbänden anhängig, sobald die Entscheidung der in erster Linie zuständigen 
Landes-Polizeibehörde angerufen war. 
Die gegentheilige Meinung, welche bei Streitigkelten über die Fürsorgepflicht des in Anspruch 
genommenen Armenverbandes den Streit als anhangig erst dann betrachtet, wenn derselbe rechts- 
hängig geworden ist, beruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, daß im Sinne der allegirten 
Gesetzesbestimmungen Streitigkeiten, welche auf den Rechtsweg gebracht werden konnten, so lange 
sie vor der Verwaltungsbehörde schwebten, nicht anhängig gewesen seien. Indessen waren vor dem 
Inkrafttreten des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 die Verwaltungsbehörden in einem großen 
Theile des Bundesgebietes ausschließlich, in Atpreußen in erster Linte zur Entscheidung der 
Armenstreitsachen berufen. Es ist daher ohne Weiteres klar, daß das Reichsgesetz vom 6. Juni 1870 
den Ausdruck „anhängig“ im Allgemeinen, nicht blos von rechtshängigen Streitsachen gebraucht hat. 
Hätte dieser Ausdruck für Streitsachen, in welchen der Rechtsweg nach der bisherigen Gesetzgebung 
nachgelassen war, in einem engeren Sinne gebraucht werden sollen, so würde diese Unterscheidung 
unbedingt hervorzuheben gewesen sein. Der Bericht der Reichstags-Kommission (Stenogr. Bericht 
über die Reichstags-Verhandlungen von 1870 Bd. IV. pag. 591) konstatirt jedoch im Gegentheil, 
 
	        
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