Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Erster Jahrgang. 1873. (1)

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armenverband zur Fürsorge zwar für die Angehörigen des N., insbesondere auch für die jetzige Ehe- 
frau desselben während der Dauer der Ehe verpflichtet sel, daß aber diese Fürsorgepflicht sich nicht 
auf die hülfsbedürfiigen Stiefklnder des N. erstrecke. 
Die vom Kläger gegen diese Entscheidung fristzeitig elngewendete Berufung ist begründet. 
Nach der Motivirung des ersten Nichters wird der Unterstützungswohnsitz der Frau durch Ver- 
heirathung derselben mit einem landarmen Manne nicht verändert, aber zeitweise inpofern wirkungs= 
los, als während bestehender Ehe nicht der Armenverband des Unterstützungswohnsitzes, sondern der 
Landarmenverband fürsorgepflichtig ist. Dieselbe Ansicht hat Nocholl in seinem System des deutschen 
Armenpflegerechts §. 54 ff. entwickelt. Sie sucht dem Prinzipe der Familieneinheit, wie es im §. 4 
des Freizügigkeitsgesetzes vom 1. November 1867 und den §§. 15, 18 bis 21 des Reichsgesetzes über 
den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870 niedergelegt ist, gerecht zu werden, ohne die in §. 22 
des letzteren Gesetzes aufgesührten Gründe für den Verlust des Unterstützungswohnsitzes um einen 
neuen zu vermehren. In das Syslem des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 paßt jedoch ein Unter- 
stützungswohnsitz nicht, welcher während der Ehe mit einem Landarmen schlummert und erst wieder 
auflebt, nachdem die Ehe getrennt worden. Entweder verliert die Fa durch Verheirathung mit 
dem Landarmen ihren bisherigen Unterstützungswohnsitz nicht, dann ist auch der Armenverband dieses 
Unterstützungswohnsitzes und nicht der Landarmenverband zur Fürsorge verpflichtet; oder sie ver- 
liert den Unterstützungswohnsitz, dann wird die Familiengemeinschaft aufrecht erhalten und dem 
Landarmenverband liegt dle Fürsorge für die ganze Familie ob. 
Weder die Fassung des §. 15 des Relchsgesetzes, noch der Inhalt des §. 22 führen nothwen- 
dig zu der Annahme des ersien Nichters, daß eine Frau, welche sich mit elnem landarmen Manne 
verheirathet, ihren bisherigen Unterstützungswohnsitz behält. Mit dem Wortlaute des §. 15 cit, 
wonach die Ehefrau den Unterstützungswohnsitz des Mannes thellt, ist es keineswegs schlechthin un- 
vereinbar, die Ehesrau auch an dem Mangel des Unterstützungswohnsitzes Theil nehmen zu lassen, 
sofern man im Auge behält, daß es sich um die Bestimmung des fürsorgepflichtigen Armenverbandes 
handelt, und daß die Fürsorgepflicht nicht blos durch das Bestehen, sondern auch durch den Mangel 
eines Unterstützungswohnsitzes bestimmt wird. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, steht der Wort- 
laut des §. 15 in keinem Widerspruche mit der Erklärung, welche bei Berathung des Antrages 
Grumbrecht der Regierungs-Kommissar abgab (Stenographische Reichstagsverhandlungen von 1870, 
Bd. II. p. 940) und welche, nachdem vom Berichterstatter der Kommission das Einverständniß der- 
selben konstatirt war, die Zurücknahme des Antrages zur Folge halte. Diese in den Reichstagsver= 
handlungen niedergelegten Ausschlüsse über die Willensmelnung des Gesetzgebers lassen keinen Zweifel 
darüber, daß im Sinne des §. 15 cit. die Ehefrau auch die Domszillosigkelt des Mannes theilt 
und stehen der Auslegung des ersten Nichters geradezu entigegen. Wird aber nach §. 15 cit. eine 
rau, welche einen landarmen Mann heirathet, vom Zeitpunkte der Verehelichung an ebenfalls 
andarm, so verliert sie nothwendig ihren früheren Unterstützungswohnsitz. Daß §. 22 des Reichs- 
gesetzes dlesen Fall unter den Verlustgründen nicht aufführt, ist wenig erheblich, sobald die Kon- 
sequenz des §. 15 dazu nöthigt, den Verlust des Unterstützungswohnsitzes auf diesen Fall auszudehnen. 
§. 22 cit. beabsichtigt keine erschöpfende Außählung der Verlustgründe und ließ in seiner ursprüng- 
lichen Fassung auch den Fall der Erwerbung eines neuen Unterslützungswohnsitzes unberücksichtigt. 
Ist hiernach durch Verheirathung der Wittwe X. mit dem landarmen N. der Unterstützungs- 
wohnsitz derselben in Harriehausen erloschen und die Fürsorgepflicht für sie auf den Landarmenver= 
band übergegangen, so sind zugleich ihre Kinder nach den §§. 19, 21 des Reichsgesetzes von dem- 
selben Zeitpunkte an landarm geworden, ohne daß es darauf ankommt, ob der Stiefvater zur Er- 
nährung derselben verpflichtet ist.
	        
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