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Nun ist freilich der Angeschuldigte, nachdem er Anfangs 1868 als Postassistent von Berlin zum Ober-
postamt Hamburg versetzt war, dort am 5. Juli 1868 nicht von der preußischen Rezgierung. sondern „im Namen
des Norddeutschen Bundes vom Bundeskanzler“ zum Postsekretär ernannt. Allein diese Ernennung, welche
unzweifelhaft deshalb vom Bundeskanzler ausging, weil das Oberpostamt zu Hamburg bis 1867 nicht eine
allein preußische Behörde war, sondern aus der Vereinigung verschiedener (deutscher) Postanstalten hervor-
gegangen ist (Art. 51 der Bundesverfassung) hat den Angeschuldigten nicht in die Kategorie der im Art. 50 alin. 4
bezeichneten Postbeamten gerückt; und wenngleich er für die Dauer seiner Funktion bei dem Oberpost-
amt zu Hamburg unmittelbarer Reichsbeamter und als solcher allein der Bundesbehörde unterstellt sein mochte,
so ist er doch durch seine 1869 erfolgte Zurückversetzung nach Preußen wiederum nur mittelbarer Bundesbeamter
geworden, wie er denn auch den besonderen Bundes-Diensteid nicht geleistet hat.
Aus dem Bisherigen folgt, daß gegen den Angeschuldigten mit Recht nach Maßgabe des preußischen
Disziplinargesetzes vom 21. Juli 1852 das Disziplinarverfahren von der zuständigen preußlschen Behörde
eröffnet ist, und daß er nach Maßgabe jenes Gesetzes Recht zu nehmen hatte, bis das Reichsgesetz vom
31. März 1873 erging. Denn als preußischer Staatsangehöriger ist er 1860 in den preußischen Postdienst
getreten und als preußischer Beamter vereidet.
Obwohl dem preußischen Disziplinargesetze nachgebildet, enthält das Reichsgesetz vom 31. März 1873
keine Uebergangsbestimmungen. Letztere waren unmöglich in Ansehung derjenigen Beamten, für welche
eine Disziplinarordnung überhaupt noch nicht bestand; rücksichtlich der übrigen kommen, Mangels besonderer
Vorschriften, die allgemeinen Rechtsregeln zur Anwendung.
Das preußische wie das Reichsgesetz erfordert für das Disziplinarverfahren auf Dienstentlassung eine
Voruntersuchung (§. 22 des preußischen, §. 84 des Reichsgesetzes). Dlese Voruntersuchung ist gegen den
Angeschuldigten geführt. Nach ihrem Zwecke soll sie dem Angeschuldigten von dem Inhalt der Beschuldigung
Kenntniß geben, seine Verantwortung entgegennehmen und die Anklage wie die Vertheidigung vorbereiten.
Diesem Zwecke entsprechend ist das Verfahren in der Voruntersuchung in beiden Gesetzen übereinstimmend
geregelt. Namentlich erfordert auch das Reichsgesetz nicht, daß die Voruntersuchung durch einen richterlichen
Beamten geführt werden müsse. Selbst wenn man also die Voruntersuchung als einen wesentlichen Bestandtheil
der Disziplinaruntersuchung selber ansehen müßte, so wäre doch die Wiederholung des Vorverfahrens
nach der Emanation des Reichsgesetzes vom 31. März 1873 eine zwecklose Formalität gewesen. Vgl. §. 99
alin. 2 des preußischen Gesetzes vom 21. Juli 1852. Denn wenn auch das Reichsgesetz — abweichend von
dem preußischen — im §. 97 vorschreibt, daß das wesentliche Resultat der geschlossenen Voruntersuchung dem
Angeschuldigten mitgetheilt werden müsse, so ist auch dieser Vorschrift insofern genügt, als noch vor der Ver-
weisung der Sache an die Disziplinarkammer auf den Antrag des Angeschuldigten die Voruntersuchungsakten
seinem Vertheidiger vorgelegt und von diesem durchgesehen sind.
Durch das Reichszeses vom 31. März 1873 sind für die Entfernung eines Reichsbeamten aus seinem
Amte entscheldende (richterliche) Reichs-Disziplinarbehörden eingesetzt. Daß der Angeschuldigte zu den „Reichs-
beamten im Sinne dieses Gesetzes“ gehört, kann nach den §§. 1 und 66 dieses Gesetzes nicht zweifelhaft
sein. Die Nothwendigkeit einheitlicher Ordnung der Disziplinarverhältnisse aller Reichsbeamten hat dahin ge-
führt, nunmehr auch die mittelbaren Reichsbeamten den territorialen Disziplinarordnungen zu entziehen und sie
der Kompetenz von Reichsbehörden zu unterstellen. Da das Gesetz selber Abweichendes nicht bestimmt, so
wurden diese Behörden, vermöge des allgemeinen Grundsatzes, daß neue prozessuale Ordnungen mit dem Ein-
tritt ihrer Gesetzeskraft auch auf schwebende Prozessual- Verfahren anwendbar werden, auch für die Untersuchung
gegen den Angeschuldigten kompetent, — um so unzweifelhafter, als die Anklage wider ihn erst nach der
Emanation des Reichsgesetzes erhoben ist. Es hat daher mit Recht die Königlich preußische Regierung zu
Danzlg am 15. Juli 1873 ihre Kompetenz verneint und der Angeschuldigte mit Recht deren Kompetenz be-
stritten. Demgemäß hat der Erlaß des Reichskanzlers vom 12. September 1873 — unter Rekapitulatlon der
bisherigen Ernennungen und unter Aufrechthaltung der Anschuldigungsschrift — die Sache vor die Disziplinar-
kammer (zu Danzig) verwiesen.
Kann sonach in formeller Beziehung weder das eingehaltene Verfahren noch die Kompetenz der
Diszipllnarkammer mit Grund beanstandet werden, so darf andererseits die Frage, ob materiell das Verhalten
des Angeschuldigten nach dem neueren, erst während des Vorverfahrens emanirten Reichsgesetze gewürdigt resp.
geahndet werden dürfe, als im vorliegenden Falle bedeutungslos auf sich beruhen. Denn das preußische und
Reichsgesetz stimmen, soweit sie hier in Frage kommen, überein,